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Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I

Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I

Titel: Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I
Autoren: Thomas Gsella
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löschte er erst, als alle unter ihren Decken lagen. »Und nicht vergessen: Ich liege nebenan. Ich höre alles. Nacht.«
    Kein Laut drang aus den Betten. Die Schienen machten kelack, kelack. Nur Rotze wimmerte noch leise.
    »Kommkomm, Herr Jesusus, seisei unser Gast undund segne, was dudu uns bebescheret hasthast«, beteten Weinhold und Zinowski nur halbwegs synchron. Wie Pingbongbälle hüpften die Worte aus ihren Mündern, sprangen schallend gegen die kahlen, in hellem Grün gestrichenen Rauhputzwände des Speiseraums der Pension Heilige Maria St. Jacob, tupften auf weinroten PVC -Belag und rollten aus.
    »Amen«, sagten neunundzwanzig Jungen im Alter zwischen zehn und dreizehn, schauten auf ihre Frühstücksteller und wussten, dass die zwei mittelgroßen Scheiben harten Graubrots weder lecker schmecken noch den über Nacht gewachsenen Heißhunger stillen würden. Das sollten Sommerferien sein? Auf den in U-Form gereihten Tischen standen große Pötte Margarine und winzig kleine Pötte Heidelbeergelee. G. gegenüber musste Rotze würgen, knibbelte sich einen Milchschmandlappen von der Zunge und strich ihn am Tellerrand ab. Rotzes Kiefer war leicht blau.
    Dann hörte G. links neben sich zwei dumpfe Schläge. Schreie. Ein Geröchel. Sein Bruder Bernd, Gruppenältester und als Ministrant schon ungezählte Male zum Hochamt zugelassen, blutete aus Mund und Nase; eine dünne tiefe Wunde zog sich über die Stirn bis hin zum rechten Ohrläppchen. Sie legte Teile des Wangenknochens frei, Blut tropfte vom Kinn auf das geblümte Frühstücksbrett. Bernd mümmelte an seiner Graubrotscheibe, trank Milch dazu und wusste – G. fiel ein nasser Krümelpatschen aus dem Mund – erkennbar nichts von seinem Zustand. Ein leises, quälend hohes Piepsen lag im Raum.
    G. schlug die Hände vors Gesicht.
    »Dann esst mal tüchtig, Kinder!«, hörte er Weinhold rufen. »Zum Einstieg nehmen wir den Hochfeiler. Mit dem Bus zur Tauferkapelle, dann hoch bis auf dreieinhalbtausend.«
    »Und denkt an Pulli, Schal und Sonnenöl«, ergänzte der Zweitpfleger Zinowski. »Da oben macht das Wetter, was es will.«
    G. spreizte seine Finger langsam, sehr langsam. Als sie den Blick auf Bernd freigaben, öffnete er den Mund, schob seine Zunge auf die Unterlippe und ließ Luft ab.
    Er hatte sich getäuscht. Auch das Piepsen war verschwunden.
    »Ich hab so Angst, bähähäh! Huuhuu! Ich fall da ru-hunter!!«
    Schwabbel mal wieder. Der dicke feige Hund und Petzer, Feind G.s wie aller Jungen der 5b, drückte sich rücklings an die leicht überstehende Felswand und hätte gefahrlos zweimal lang hinschlagen können, so breit war der Weg. Aber das war Schwabbel egal. Er wollte nicht mehr. Er heulte, und sein einziger Vorsatz war zu heulen, bis Weinhold den Befehl zum Abstieg geben würde. Schon nach fünf Minuten, bei der ersten kleinen Aussicht auf ein unter ihm gelegenes Stück Erde, war Schwabbel fahl geworden und hatte sich wie ein Kleinkind an den Aufpasser gehängt. Der hatte ihn abgeschüttelt. Jetzt kam Weinhold auf ihn zu.
    »Bleib hier, wenn du willst«, sagte er.»Auf dem Rückweg holen wir dich ab.«
    Kurz blieb Schwabbel stumm. Dann machte seine Mimik sich erneut zum Heulen fertig.
    »Und morgen fährst du zurück nach Essen. Du weißt, was wir mit euren Eltern ausgemacht haben: Wer nicht pariert, wird in den Zug gesetzt. Also überleg’s dir.«
    Schwabbel sagte nichts. Es gab nichts zu sagen. Hierbleiben oder Weitergehen, beides war unvorstellbar. Er blickte Weinhold an, danach die Jungen. Im letzten möglichen Moment hörte er Zinowskis Stimme.
    »Na komm, wir gehen zusammen. Ich gehe außen, dann fühlst du dich sicherer.«
    Die nächsten Stunden waren ihm so lang wie Tage. Seine Hand fest um drei Finger Zinowskis gepresst, meisterte Schwabbel Schritt für Schritt und guckte, wann immer es der Weg erlaubte, vor sich auf den Boden. Erst am frühen Abend, zum Ende des Abstiegs, als hinter einer Kurve die nahe Tauferkapelle erschien, nickte er seinem geliebten Helfer zu, entzog ihm seine Hand und rannte los.
    Ein Feuer brannte auf dem lehmigen Pensionsvorplatz und warf zuckendes Licht auf die Gebäudefront. Weinhold stand, umringt von achtundzwanzig Jungen im Alter zwischen zehn und zwölf, kaum zwei Meter von den Flammen entfernt, hielt einen Rosenkranz in den Händen und betete. In Intervallen fiel die Jungengruppe ein: »Heilige Maria, bitte für uns.« Zu beiden Seiten des Hauptgebäudes, vom Feuerschein züngelnd erhellt, führte ein
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