Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Morphin

Morphin

Titel: Morphin
Autoren: Szczepan Twardoch
Vom Netzwerk:
[zur Inhaltsübersicht]
    Teil eins
    Kapitel eins
    S chädel. Gestank.
    Der Schädel will platzen. Die Zunge eine dürre, tote Schnecke, rau. Der Gaumen verkrustet von angetrocknetem Schleim. Der Schädel will platzen. Wüste. Gestank.
    Also ist er wach geworden? Nein, noch nicht wach. Weiterschlafen? Schlaf, vergeht das Leiden im Schlaf? Nein.
    Doch im Schlaf …
    Also wird er wach. Wach. Bin wach geworden. Die Augen brennen, ich pule Schleimklümpchen heraus, mit dem Finger, die Wimpern sind verklebt. Ich öffne die Lider. Wo bin ich? Nicht bei mir.
    Aufstehen, auf die Toilette gehen. Keine Lust aufzustehen. Noch liegen bleiben, liegen. Wo? Nicht bei mir.
    Aufgestanden. Schwindel. Setze mich auf den Bettrand.
    Ich sitze, Schwindel, erbrechen, deshalb plötzlich hoch und vorangestürmt wie ein Fechter, wie ein Schwimmer, nur voran, immer voran, aus der Wohnung, die nicht meine ist, auf den Flur, zum Abort.
    Ich erleichtere mich, mein praller Bauch erschlafft. Der Schädel will platzen. Wasser da? Ich drehe den vierarmigen Griff des Hahns mit der blauen Plakette, wie ein Orden, wie der Virtuti Militari, kein Wasser, immer noch nicht. Im Eimer ist welches, Aniela hat es gebracht oder wer anders.
    Die Kloschlüssel mit dem Eimer spülen. Dann das Waschbecken, den Stöpsel drücken, der Strahl geht in die Porzellanmuschel, Wasser, trinkst du? Ich trinke. Wir trinken.
    Gestern veröffentlichte die Stadtverwaltung eine Liste mit zweiundzwanzig Stellen zur Wasserversorgung. Das dort geholte Wasser ist umsonst und vor Gebrauch abzukochen. Scheiß drauf. Ich benetze mein Gesicht, gieße den Rest über den geschwollenen Schädel, die Hirnschale knirscht, ich höre, wie es knirscht, von innen drückt das verquollene Hirn gegen den Knochen, von außen lässt ihn das eisige Wasser gefrieren.
    Er hebt den Kopf. Sieht mich im dreckigen Spiegel.
    Das bin ich. Konstanty Willemann.
    Sowie die Folgen des Wodkatrinkens. In diesem Fall Wein, die letzten vier Flaschen, einsam, am Küchentisch, dazu Brot, das Aniela auf dem Blech angeröstet hat, gesalzen und mit geriebenem Knoblauch. Die letzten Flaschen. Nachschub gab’s nicht. Vielleicht wird es nie wieder Wein geben? Blödsinn, Wein wird es immer geben. Aber nicht für mich.
    Den dreiundfünfzigsten Tag nüchtern vom Morphin. Vierzehnter Tag der Deutschen in Warschau. Einsames Trinken, nach der halben zweiten Flasche Singen ausschweifender Lieder, bei der dritten patriotische Lieder, bei der vierten Weinen, Weinen, Weinen. In der angelehnten Küchentür Anielas verschlafenes Gesicht, braucht der Herr etwas? Fort mit dir, du Schlampe, alte Puderdose, Einsamkeit brauche ich, in meiner Tragödie und der meiner Stadt brauch ich nur Einsamkeit und die fünfte Flasche Burgunder und kriege doch nichts!
    Ich muss mich heute nicht bei Aniela entschuldigen, sie hat sich daran gewöhnt. Wenn er getrunken hat, verhöhnt der Herr Gott und die Welt. So ist der Herr eben, Herren sind nun mal so.
    Ich erinnere mich an dieses Gebrüll, als ich mich im Spiegel betrachte. Erinnere mich an sie: Aniela, die alte Näherin, Schwester der Bediensteten meines Schwiegervaters. Ich verstecke mich in ihrer Kammer. Sie schläft in der Küche. Die Vermieter sind nicht da. Geflohen. Ich bin nicht geflohen. Und jetzt schaue ich in den Spiegel.
    Das bin ich. Zerwühltes Haar, blasses Gesicht, Zweitagebart.
    Erst jetzt kommt mir alles wieder, oder eher, kommt es zurück: die demolierte Stadt, die nicht mehr meine ist, Hela und Jureczek in unserer Wohnung im Haus des Schokoladenfabrikanten Wedel in der Madalińskistraße, die Mobilmachung, die Belagerung, Kapitulation, Starzyński redet etwas vom Schandfleck in der deutschen Armee, die mit der armen Bevölkerung von Praga kämpft, Orden, ausstehender Sold, Ksyks Irrsinnstat und sein schwarzer Schnurrbart, nach der Kapitulation der Wechsel von unseren Positionen am Sieleckipark zu den Chevaulegers-Kasernen, wo wir die Gefangennahme abwarten sollten. Aber ich gehe nicht in Gefangenschaft; Gefasel, dass man weiterkämpfen soll, der Oberst lässt mich gehen, geh, hast ja recht, weiterkämpfen, meine Pistole vergraben wir im Garten bei den Nazarethschwestern in der Czerniakowska, zusammen mit den Waffen einiger Kameraden, die Uniform verbrennen wir danach im Ofen, sogar die Stiefel, obwohl es um die schade ist und wahnsinnig stinkt; Gefangenschaft kommt nicht in Frage. Und vorher, vor der Mobilmachung – das Gelöbnis. Nüchternheit. Nach der Kapitulation hab ich mich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher