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Dann fressen sie die Raben

Dann fressen sie die Raben

Titel: Dann fressen sie die Raben
Autoren: Beatrix Gurian
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I
    Jede Seele wird den Tod kosten; und Wir stellen euch mit Bösem und Gutem auf die Probe; und zu Uns werdet ihr dann zurückgebracht. ((21:35))
    Zuerst fällt nur sein Schatten auf den großen weißen Engel aus Stein, dann springt er über die Mauer, wo seine Füße lautlos und luchsgeschmeidig auf der harten Erde landen, während seine Hände den langen Spaten ausbalancieren.
    Ungeduldig wischt er die im Mondlicht aufschimmernden Tränen von seinem Gesicht und beginnt, die Reihen der Gräber abzusuchen. Immer wieder bleibt er stehen, verharrt regungslos und lauscht in die Dunkelheit. Erst wenn er sicher ist, dass ihm niemand folgt, holt er wieder Luft, ein tiefer Atemzug, der oft zu einem jämmerlichen Aufschluchzen wird. Dann presst er die freie Hand vor den Mund wie einen Knebel.
    Er muss lange suchen, bis er findet, was ihn auf den Friedhof getrieben hat: ein frisches Grab, über und über bedeckt von prächtigen Gestecken und Rosenkränzen, mit Trauerschleifen, die im Mondlicht seidig glänzen.
    Er sinkt vor dem Grab auf die Knie und beugt den Kopf zur Erde. So verharrt er eine lange Zeit. Nur ein leises Rascheln stört die Friedhofsruhe. »Verzeihung«, murmelt er immer wieder, »es tut mir leid, vergebt mir, aber ich habe keine Wahl.«
    Schließlich erhebt er sich und beginnt, die schweren Kränze zur Seite zu räumen. Er packt sie behutsam an wie zerbrechliche Kostbarkeiten. Doch mit der Zeit wird er schneller und schon bald läuft ihm der Schweiß in Strömen über das Gesicht.
    Er greift nach dem Spaten und beginnt, das Grab auszuheben, das bald wie eine frische Wunde in der Erde klafft. Immer wieder vergewissert er sich, dass er aus dem Loch noch herauskommt. Kurz bevor er es alleine nicht mehr schafft, legt er den Spaten zur Seite und schleicht durch die Gräberreihen zurück zum Engel an der Mauer.
    Er legt seine Hände vor den Mund. Ein lockendes Vogelgeräusch tönt durch die Dunkelheit. Eine Strickleiter wird über die Mauer geworfen, dann ein schwarzer Müllsack, der mit einem lautem Knistern und Krachen auf der Erde landet.
    Schmerz verzerrt sein Gesicht, als hätte man ihn geschlagen, er rennt zu dem Sack, wirft sich neben ihn, umschlingt ihn mit seinen Armen, presst seine Wange dagegen und ist dankbar, dass ihn seine Mutter so nicht sehen kann.
    Hinter ihm lassen sich noch zwei junge Männer in schwarzen Hosen und dunklen Kapuzenpullovern von der Mauer herabfallen. Einer packt die Strickleiter und hängt sie sich um, dann beugen sich beide zu dem Jungen, trennen ihn sanft, aber unerbittlich von dem Sack. Jeder von ihnen greift sich wortlos ein Ende des offensichtlich schweren Pakets.
    Der Junge steht auf, ringt mühsam um Beherrschung. Schließlich weist er ihnen mit dem Kopf die Richtung und sie brechen auf.
    Diesmal bleibt niemand stehen, um zu lauschen, alles geschieht in größter Eile. Als sie das offene Grab erreicht haben, laden die beiden den Sack ab, springen, ohne eine Anweisung abzuwarten, in das Erdloch und schaufeln weiter die Erde heraus. Als der Spaten endlich den Sarg berührt, halten die Männer nur kurz inne. Sie verständigen sich nicht einmal durch Blicke, sie greifen einfach nach dem Sack und hieven ihn auf den Sarg.
    Während der erste Junge stumm danebensteht, werfen sie mit dem Spaten und mit ihren Händen die Erde auf das Grab, bis der Erdhaufen neben dem Loch wieder verschwunden ist. Danach trampeln sie alles fest und glätten die Erde, bevor sie die Blumengestecke und Kränze ordentlich auf das Grab zurücklegen.
    Schließlich verschwinden die beiden Männer in der Dunkelheit, lautlos, wie sie gekommen sind.
    Nur der Junge bleibt zurück. Er kniet sich vor das geschändete Grab und verharrt regungslos, bis ihn die ersten Strahlen der Sonne aus seiner Erstarrung lösen. Dann erhebt er sich und wendet sich in Richtung Mauer.
    Ihm ist vollkommen klar, wohin ihn sein Weg nun führen muss. Es mag sein, dass Gott in der Lage ist, den Menschen zu verzeihen. Aber er ist nicht Gott, für ihn heißt es deshalb nicht nur Auge um Auge, Zahn um Zahn, sondern Leben für Leben.
    Ihr Leben für seins.

1. Kapitel
    »Sie hat was?« Ich kann mir das nicht vorstellen. Doch nicht Lina, meine ach so kluge Schwester.
    Pa nickt, und erst jetzt wird mir klar, dass er Tränen in den Augen hat. »Deine Mutter ist völlig am Ende. Niemand versteht, warum sie das getan hat.«
    Am liebsten hätte ich ihn geschüttelt. Pa, hätte ich gern zu ihm gesagt, das ist doch nur wieder ein Trick, um sich in
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