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Scherben

Scherben

Titel: Scherben
Autoren: Ismet Prcic
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mit den Bildern von nackten Menschen gehörten zu meinem festen Programm. Allerdings hasste ich es, ein Kind und alleine zu sein, verletzlich und verängstigt; ich hasste es, vor Schreck zu erstarren, wenn jemand bei uns klingelte: Handelsvertreter, Bettler, Zigeuner, die anboten, Regenschirme zu reparieren, ältere Kinder, die alte Zeitungen und Flaschen sammelten und ein bisschen Geld mit Recycling verdienen wollten. Ich machte nie die Tür auf, so wie ich es gesagt bekommen hatte. Ich hasste es, wenn sie mich drinnen hörten und mehrmals klingelten, während ich drinnen vor Angst zitterte und versuchte, möglichst leise die Kette vorzulegen. Ich hasste es, alleine mit diesem riesigen Rucksack in die Schule zu gehen, während all die anderen Kinder in Gruppen unterwegs waren und zusammen Blödsinn machten. Ich hasste die Stille, die die Wohnung erfüllte, wenn ich allein war, die Stille, deretwegen unablässig der Fernseher lief, auch wenn Nachrichten kamen oder langweilige Geschichtssendungen, sogar während der Sendepausen. Die Pausen waren am schlimmsten: stundenlang Aufnahmen von einem fliegenden Vogel oder klassische Musik.
    Es geschah aus heiterem Himmel. Ich sah gerade Die kleinen Strolche im Wohnzimmer und aß Brote mit Butter und Honig, als das Telefon klingelte. Wir hatten ein rotes Telefon mit Wählscheibe und einem kleinen Lämpchen, das aufblinkte, wenn es klingelte. Ich hätte an dem Tag eigentlich nicht fernsehen dürfen, weil ich noch eine Menge Hausaufgaben zu erledigen hatte, und im Wohnzimmer essen durfte ich auch nicht, deshalb machte ich den Fernseher aus und schluckte erst noch den letzten Bissen runter, bevor ich ans Telefon ging.
    Dann setzte ich die Miene eines braven Jungen auf, nahm den Hörer und sagte hallo.
    Am anderen Ende war es still, aber die Leitung war nicht tot. Es war die Stille eines leeren Raums oder eines Raums, in dem jemand alle Geräusche unterdrückt, um den Anschein zu erwecken, der Raum sei leer. Es war die Art von Stille, die Tontechniker beim Film aufnehmen müssen, weil sie keine totale Geräuschlosigkeit wollen, denn die würde tot klingen, unnatürlich, sie brauchen eine nuancierte Stille, damit die Filme lebendig wirken. Die Stille, die ich am anderen Ende der Leitung hörte, war definitiv lebendig.
    Das Herz wanderte mir in den Hals, und ich wiederholte mein Hallo in höherer Tonlage, und diesmal hörte ich etwas, ein Geräusch, als würde jemand schniefen oder ein Wimmern unterdrücken. Ich schluckte. Ich hoffte, dass es nur eine schlechte Verbindung sei, dass derjenige, der dort wimmerte, meine Stimme nicht hörte. Und als ich gerade zu einem dritten, lauteren Hallo ansetzen wollte, sagte eine Frau etwas, das ich nie vergessen werde. Sie sagte:
    Kleiner Junge, Dr. Stefan Tadić ist dein Papa. Hast du gehört? Dein Papa ist nicht dein Papa. Dr. Stefan Tadić ist dein Papa .
    Ich legte auf. Knallte den Hörer auf die Gabel. Meine Finger schmerzten. Ich hörte mein Herz in der Stille der Wohnung. Ich verstand nicht, was sie meinte, aber ich wusste, dass es etwas Schlimmes war, etwas sehr Schlimmes.
    Dann klingelte das Telefon erneut, und ich verdeckte das Lämpchen mit der Hand.
    Es klingelte wieder.
    Und wieder.
    Wieder.
    Wieder.
    Wieder.
    Wieder.
    Ich wartete, zitternd, tatsächlich zähneklappernd, und als es vorbei war, rief ich meine Mutter auf der Arbeit an. Die Frau in der Zentrale bat mich, dranzubleiben. Ich blieb dran. Mein Finger blutete ein bisschen. Ich blieb dran, bis sich meine Mutter meldete und dann konnte ich es nicht mehr zurückhalten.
Mit sieben Jahren
    Ich lag im Bett und hatte den rechten Arm unbequem über das kalte Plastik des Nachttischs gestreckt, um meinem kleinen Bruder die Hand zu halten, während wir lauschten. Sie schrie ihn wieder an. Zerbrach Sachen.
    Er sagte: Tu’s nicht; warum willst du das tun?
    Sie sagte: Nein. Nein. Nein. Ich kann keine Lügen mehr ertragen .
    Und Krach: Küchenschubladen wurden aufgezogen und zugedonnert, etwas klapperte, Besteck klirrte. Eilige Schritte im Flur, dann flog die Tür zu unserem Zimmer auf und Vater platzte herein. Mein Bruder fing zuerst an zu weinen. Er heulte: Was macht ihr? Kurze Zeit später tat ich es ihm gleich. Ich heulte: Hört auf zu streiten, bitte . Wir waren schon aufgesprungen, und Vater schob uns hinaus.
    Er sagte: Ich weiß nicht, was mit ihr los ist und vielleicht könnt ihr ja helfen .
    Wir traten in unseren Schlafanzügen in den Flur. Das Linoleum an der Wohnungstür war
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