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Scherben

Scherben

Titel: Scherben
Autoren: Ismet Prcic
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kalt unter meinen nacktenFüßen. Das Licht am Stromzähler an der Wand glühte rot. Das bedeutete, dass bereits auf billigen Nachtstrom umgestellt war.
    Mutter kam mit einem Messer aus der Küche, und als sie uns sah, versteckte sie es hinter ihrem Rücken.
    Wir weinten. Wir jammerten. Vater stand hinter uns, die Wohnungstür im Rücken.
    Lass mich gehen , sagte sie zu ihm.
    Beruhige dich, Henrietta , sagte er. Sei vernünftig .
    Geh weg, sonst … setzte sie an, unterbrach sich aber. Sie dachte nach. Ihr Blick sprang wild umher. Dann beendete sie den Satz: Bin ich imstande, etwas Schreckliches zu tun .
    Ich erinnere mich, dass ich gedacht habe, wie komisch das klang. Umständlich. Niemand sagt so was. Es klingt abgedroschen. Sie sagt nicht, was sie eigentlich sagen will. Ich erinnere mich, dass ich dachte: Was meint sie damit?
    Warum? , fragte er. Wir haben eine Wohnung, wir haben gute Arbeit, wir haben zwei Kinder. Was ist so schlimm?
    Du , sagte sie. Ich. Das ist ein Trauerspiel .
    Sie machte einen Schritt zurück in die Küche und sah Mehmed und mich an. Vergesst das niemals , sagte sie, wir alle leben eine Lüge .
Mit acht Jahren
    Ich träumte davon, der sehnige Eisverkäufer aus dem Kosovo zu sein, dem der winzige Laden an der Autobushaltestelle vor unserem Haus gehörte. In meinem Alter konnte ich mir keinen besseren Job auf der ganzen Welt vorstellen, als in einer Streichholzschachtel von einem Raum zwischen der Sparkasse und der Haltestelle in der Titova-Straße zu sitzen, und einem breiten Spektrum von Bürgern – schlecht gekleideten Geschäftsmännern mit feuchten Achseln genauso wiegrobschlächtigen Bauern auf dem Weg zum oder vom nahe gelegenen Kleinmarkt – billig hergestellte Erfrischungen zu verkaufen. Mir lief das Wasser im Mund zusammen beim bloßen Gedanken daran, mich in der Nähe der riesigen Eismaschine aufzuhalten, mit ihrem brummenden Metallbauch und ihrem süßen Innenleben, nur einen Hauch entfernt von den drei Hebeln und den wilden Strudeln aus Schokolade und Vanille dahinter. Mmm, Eis.
    Meine Mutter erlaubte mir eine Scheibe Brot pro Mahlzeit, eine Entscheidung, die ihr sehr schwerfiel, die mich aber wahrscheinlich vor kindlicher Fettsucht bewahrte, wenn man bedenkt, wie viel Appetit ich damals hatte. Ich bekam auch kein Taschengeld. Wenn mir jemand bei einem Familientreffen eine Münze zusteckte, holte meine Mutter mein Sparschwein und ich musste sie reinstecken. Mutter war streng aus Liebe, aber damals fand ich sie einfach nur gemein. Im Gegensatz zum Rest meiner weitläufigen Familie, die sich darüber lustig machte und mir Maccaroni auf den Teller häufte, wenn meine Mutter nicht im Zimmer war, nahm sie meine Gewichtszunahme ernst. Sie nannte mich poguzija – eine liebevolle, familiäre Art, jemanden als Fettsack abzustempeln.
    Hör auf zu essen , pflegte meine Großmutter väterlicherseits zu sagen, sonst setzt sich dir dein Hintern ins Genick .
    Meine Mutter ermunterte mich, rauszugehen und zu spielen, schickte mich nach draußen. Widerwillig gehorchte ich, aber anstatt einem Fußball hinterherzurennen oder auf einen Baum zu klettern, beobachtete ich den Eisverkäufer. Der Anblick von Leuten, die Eis kauften, mit den Zungen darüber leckten und die cremige Kälte auskosteten, entfachte meine Leidenschaft. Schon bald loderten meine Augen vor Fressgier und ich verließ meinen Beobachtungsposten, um den Laden zu umkreisen wie ein Hai einen Taucher in einem Unterwasserkäfig – ein tranceartiger Zustand.
    Eines Tages riss mich der Verkäufer aus meinen Tagträumen. Ich weiß nicht, wie lange ich schon vor seinem Laden herumgelungert und die Kunden mit heraushängender Zunge und wildem, lüsternen Blick verschreckt hatte. Plötzlich verengte sich die Welt auf dieses Bild: er, wie er den Kopf zur Tür herausstreckt und mich zu sich winkt. Sein Schnurrbart zuckte auf und ab wie der von Chaplin. Meine Beine trugen mich zu ihm, immer näher, während es in meinem Kopf brüllte, dass ich stehen bleiben sollte, kehrtmachen, wegrennen.
    Ich wusste, dass er mir ein Eis umsonst gab, um mich loszuwerden, aus Mitleid. In seinen Augen war ich ein armes Kind, das nach etwas gierte, was es sich nicht leisten konnte. Und das stimmte; ich konnte mir nicht leisten, dass mein Hintern den Rücken hinaufkroch und sich mir ins Genick setzte; ich wollte den grausamen Hänseleien in der Schule entgehen, den Sticheleien der Mädchen in der Pause. Ich wusste, dass ich von Fremden nichts annehmen durfte, und
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