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Spring in den Himmel

Spring in den Himmel

Titel: Spring in den Himmel
Autoren: Lotte Kinskofer
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5. Juli
    Ein Jahr Frankreich. Mit einem Stipendium. Ich sitze im Zug, wir sind kurz vor Straßburg und ich habe jetzt schon Heimweh. Aber Heimweh nach was? Nach der Wohnung, in der ich mit meinen Eltern und dem kleinen Bruder so viele Jahre meines Lebens verbracht habe? Nach meinen Schulfreunden? Nach Alexander oder sogar nach Yoyo?
    Aber ich wollte doch weg, mein eigenes Leben beginnen. Weg von München, von all dem, was in den vergangenen Monaten passiert ist. Ich möchte endlich wissen, wer ich bin. Wer ich sein kann. In einer anderen Umgebung. Weit weg von zu Hause. Von diesem Zuhause, das mir zu klein geworden ist.
    Ich hatte doch selbst das Gefühl, dass es nach der Geschichte mit Alexander und Yoyo keinen Weg mehr zurück gab, sondern dass etwas Neues kommen musste. Und das Neue liegt jetzt vor mir. Ich sehe aus dem Fenster. Vorüberfliegende Landschaft, kleine Orte, irgendwann dann Industrie, mehr Gleise, wir nähern uns der Stadt.
    Wir sind in Frankreich! Endlich darf ich das Geschenk aufmachen, das mir mein kleiner Bruder mitgegeben hat. Ich ziehe es aus der Reisetasche. Er hat mir ein Bild gemalt. Mama, Papa, Jamina, Rafik, zwei Meerschweinchenund noch drei weitere Menschen: ein alter Mann – Herr Kamke; ein junger Mann – Alexander; eine junge Frau mit bunten Haaren – Yoyo. Ich muss unwillkürlich lächeln, weil er uns alle ziemlich genau getroffen hat. Auf den zweiten Blick stelle ich fest, dass er auf diesem kleinen Stück Papier die letzten Wochen sehr gut zusammengefasst hat. Sie alle haben mein Leben in dieser Zeit bestimmt – und verändert.
    Nicht mehr zurückschauen, Jamina. Den Blick nach vorne. Auf das, was dich in Paris erwartet. Eine andere Sprache, neue Menschen, eine Welt, die du nicht kennst, die du dir erst erobern musst, kannst, darfst.
    Das Ungewisse macht mir ein bisschen Angst, aber es ist auch spannend und aufregend. Wie der Sprung damals … Nun ist es der Sprung in ein neues Leben.
    Der Schaffner kommt herein und fragt auf Französisch nach den Fahrkarten. Ich wühle in meiner Tasche, werde nervös. Sollte mir das wirklich noch einmal passieren, dass ich mein Ticket nicht finde? Sollte sich die Geschichte so wiederholen? Nein, da ist es. Ich strecke das Ticket dem Schaffner entgegen und lächle ihn an.
    »Bon voyage.«
    »Merci.«
    Das Abenteuer kann beginnen.

16. April

1. Kapitel
    »Die Fahrausweise bitte.«
    Jamina zuckte zusammen, als sie die Stimme des Kontrolleurs hörte. Sie hatte gerade zum Fenster hinausgesehen. Als ob es hier etwas zu sehen gab, wenn man aus der U-Bahn in den dunklen Schacht hinausstarrte. Aber sie hatte ihren Gedanken nachgehangen, wollte nicht ihre Mitfahrer beobachten, von denen die meisten stumpf vor sich hinglotzten oder mit ihrem Handy spielten.
    Der Kontrolleur stand vor ihr, Jamina zog ganz selbstverständlich ihre Geldbörse heraus, um die Fahrkarte zu zeigen. Aber da war sie nicht. Wieso nicht? Sie war immer hier … Jamina überlegte kurz, dann zuckte sie zusammen, weil sie begriff: Wo auch immer sie ihre Fahrkarte hatte – verlegt, verloren, vergessen –, hier war sie jedenfalls nicht.
    Jamina dachte fieberhaft nach. Vielleicht war sie rausgefallen, befand sich irgendwo in der Tasche. Sie begann, richtig zu suchen, wurde nervös, holte alle Sachen heraus, legte sie auf den freien Sitz gegenüber. Das Buch, das sie gerade las. Ihre Federmappe. Das Schminktäschchen. Die Taschentücher.
    Wo konnte sie stecken? Es war der erste Tag nach den Osterferien … Wann hatte sie die Fahrkarte zuletzt gebraucht?Moment … Vorgestern war sie im Schwimmbad gewesen. Die Monatskarte hatte sie in die Jeans gesteckt. Die Jeans war in der Wäsche …
    Geduldig wartete der Mann mit Kontrolleursausweis in der Hand. Sein bärtiger Kollege kam zu ihm. Jamina sah, wie die beiden einen Blick wechselten.
    Resigniert packte sie ihre Sachen wieder ein.
    Niemals zuvor war Jamina so etwas passiert. Sie, die zuverlässige, pünktliche, genaue, ehrliche Jamina. Sie fuhr gerade schwarz und hatte sich auch noch erwischen lassen.
    Die Blicke der Mitfahrer: wieder eine gefasst. Geschieht ihr recht. Wir zahlen doch auch.
    »Du mitkommen«, sagte der bärtige Kontrolleur. Jamina stand auf. Der Zug fuhr gerade im U-Bahnhof Münchner Freiheit ein.
    Sie wusste, warum er so mit ihr redete. Weil sie mit ihren schwarzen Haaren, mit ihren dunklen Augen für ihn so aussah, als wäre sie nicht von hier, als könnte sie die deutsche Sprache nicht. Wahrscheinlich dachten die
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