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Ines oeffnet die Tuer

Ines oeffnet die Tuer

Titel: Ines oeffnet die Tuer
Autoren: Markolf Hoffmann
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1.
    Als Ines die Tür zum ersten Mal sah, hatte sie das eigenartige Gefühl, dass diese sie ebenfalls anschaute.
    Natürlich hatte die Tür keine Augen. Sie war nur eine alte knorrige Tür, aus einem Holz, so dun
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kel wie Bitterschokolade. Sie hatte auffällige, verschnörkelte Verzierungen und eine Klinke aus Messing, die einem Widderhorn glich. Es gab also nichts, womit die Tür Ines hätte anschauen können.
    Und doch: Seit Ines im Flur stehen geblieben war, hatte sie das ungute Gefühl, beobachtet zu werden. So wie man nachts aus dem Schlaf aufschreckt und in der Finsternis jemanden – oder etwas – spürt. Etwas, das einen anstarrt, aber stets verschwindet, wenn man das Licht anknipst.
    Dieses Gefühl ließ Ines nicht los. Sie stand vor der Tür, betrachtete den Widderhorngriff und die Maserungen im Holz und fragte sich, was das wohl für eine Tür war. Nicht nur, dass sie sie anblickte. Nein, Ines war auch felsenfest davon überzeugt, sie nie zuvor gesehen zu haben. Sie hätte schwören können, dass die Tür nicht in der Wand gewesen war, als sie vor zwei Minuten den Flur durchquert hatte.
    Vor zwei Minuten war Ines auf dem Weg in die Küche gewesen, um ein Glas Apfelsaft zu holen. Das Glas, der Apfelsaft und die Küche gehörten Oma Agnes. Ines und ihre Familie waren gerade zu Besuch bei ihr. Das kam selten vor. Oma Agnes wohnte in einem Dorf, eine Autostunde entfernt von der Stadt, in der Ines lebte. Ihr Haus war urig, mit knarrenden Dielen, einem finsteren Speicher und jeder Menge verrückter Sachen, die in der Gegend herumstanden. Da gab es eine Kleiderpuppe mit Drahtgliedern, an denen ein mottenzerfressenes Rüschenkleid hing. Da gab es die Statue einer Tänzerin, die mit trauriger Miene eine Pirouette auf ihrem Sockel drehte und immer so aussah, als würde sie gleich losheulen. Es gab eine Schatulle aus getöntem Glas, in der Broschen und Silberringe lagen – die man aber nicht herausnehmen konnte, da sich die Schatulle an keiner Seite öffnen ließ. Und an den Wänden hingen nostalgische Plakate, auf denen Männer mit weißen Handschuhen Karten spielten, Frauen an Hauswänden lehnten und Zigarillos rauchten oder Schimpansen im Frack Cocktailgläser servierten. All dies war in Kreidefarben gemalt und mit blumigen Schriftzügen versehen, etwa
Club Extravagance
oder
Café Kopflos
.
    Das waren nur einige der Merkwürdigkeiten, die es bei Oma Agnes zu bestaunen gab. Ihr Haus war ein Hort der Wunder und Geheimnisse, und für Ines und ihren Bruder Julian war jeder Besuch ein Abenteuer. Leider kam dies, wie gesagt, selten vor. Ihre Mutter mochte Agnes nicht besonders, und das Haus war ihr zu düster, zu staubig und zu unheimlich.
    Â»Der ganze Krempel, der da herumsteht«, sagte sie, wann immer das Gespräch auf das Thema kam. »Das ist weder sauber noch ästhetisch noch ist es etwas für Kinder. Wie kann man in einer solchen Rumpelkammer leben? Und wer weiß, was Agnes noch so alles hinter verschlossenen Türen aufbewahrt.«
    Das fragte sich Ines in diesem Augenblick auch, während sie die Tür anstarrte. Die Tür, die eben noch nicht da gewesen war, als sie durch den Flur gegangen war. Wie konnte sie die nur übersehen haben? Und was mochte dahinter sein?
    Neugierig spähte sie durch das Schlüsselloch. Das Licht auf der anderen Seite war schwach. Ines konnte den Schemen eines Sessels erkennen und ein pulsierendes Glimmen, wie von einer Laterne. Die schwarze Lehne des Sessels glänzte in dem Licht wie Pantherfell. Und dann – Ines hätte vor Schreck fast den Apfelsaft fallen lassen – erlosch das Glimmen, und ein zischenden Geräusch erklang hinter der Tür, so als ziehe jemand scharf die Luft ein.
    Irgendjemand ist da drinnen, dachte Ines. Aber wer? Agnes lebt doch allein. Vielleicht ist es ihre Katze … nein, die lag im Wohnzimmer auf dem Sofa und schlummerte. Und wie sollte sie bitte schön durch eine verschlossene Tür kommen?
    Ihr Herz schlug etwas schneller – teils aus Angst, teils aus Neugier. Hinter der Tür war nichts mehr zu hören, selbst dann nicht, als sie das Ohr an das Holz presste.
    Kein Geräusch. Gar nichts.
    In einem Gruselfilm, dachte Ines, würde das Mädchen nun die Klinke herabdrücken und nachsehen, ob ein Monster oder ein Killer hinter der Tür lauert. Und was passiert dann? Das Monster frisst sie, der Killer greift
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