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Ines oeffnet die Tuer

Ines oeffnet die Tuer

Titel: Ines oeffnet die Tuer
Autoren: Markolf Hoffmann
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sich Ines, ihrer Mutter ähnlicher zu sehen.
    Â»Was ist mit dir, Veith?«, fragte Carmen gerade ihren Mann. »Willst du etwa auch den ganzen Tag in dem muffigen Haus herumgammeln?«
    Veith schwieg. Er mochte es nicht, wenn seine Frau über das Haus herzog. Dies war das Haus, in dem er aufgewachsen war, in dem er jeden Winkel kannte, jeden Spalt zwischen den Dielen. Carmens Worte kränkten ihn, aber er wollte keinen Streit vom Zaun brechen.
    Â»Wirklich niemand?« Carmen strich enttäuscht ihre dunklen Locken zurück. »Was seid ihr nur für Stubenhocker!«
    Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände: Hab ich’s doch gewusst. Hätte ich lieber gar nicht erst gefragt.
    Dann aber bekam sie doch eine Antwort.
    Â»Ich begleite dich, Carmen. Eine Runde um den See ist jetzt genau das Richtige, Wetter hin oder her.«
    Im Türrahmen zum Flur stand Agnes. Sie lächelte verschmitzt, sodass sich die bronzene Haut um ihre Mundwinkel zu zahlreichen Fältchen und Grübchen kräuselte. Sie hatte ein markantes Gesicht, mit einer scharf geschnittenen Nase, kräftigen Brauen und einem breiten Mund, auch wenn die Lippen ausgetrocknet waren. Ihre Augen waren grau-grün wie die von Veith und Ines und blitzten vor Klugheit.
    Ines fand, dass Agnes für ihre fast achtzig Jahre sehr hübsch, ja auf geheimnisvolle Weise jung geblieben war. Sie hatte so gar nichts Großmütterliches an sich: Ihr Rücken war noch kerzengerade, sie war schlank wie ein Strich, und die grauen Haare trug sie lang, meistens zu einem Zopf gebunden. Ines kannte auch keine andere Oma, die sich so auffällig schminkte, eng geschnittene Kleider trug und verrückte Ohrringe anlegte. Ja, Agnes war etwas Besonderes. Und durch ihr Alter strahlte sie eine Würde aus, die Ines bewunderte.
    Â»Ich werde gleich meine Jacke holen«, sagte Agnes nun. »Wir können zu den Fischstegen laufen. Sie haben da letzte Woche eine alte Reuse aus Weidenholz aus dem See gezogen, sicher hundert Jahre alt. So etwas sieht man nicht alle Tage.«
    Julian legte seine Playmobilfiguren zur Seite. »Was ist eine Reuse?«
    Agnes lächelte. »So etwas wie eine Mausefalle, nur für Fische. Sie schwimmen hinein, aber kommen nicht mehr heraus. Du kannst ja mitkommen, Knirps, und sie dir anschauen.« Sie zwinkerte Ines zu. »Du natürlich auch.«
    Carmen hatte die Augenbrauen hochgezogen. Auf ihrer Stirn zeichnete sich eine strenge Falte ab. Es schmeckte ihr gar nicht, dass Agnes die Sache mit dem Spaziergang in die Hand genommen hatte. Sie hatte ihre Schwiegermutter nie gemocht. Es gab häufig Streit, wenn die Familie Agnes besuchen wollte. Meist blieb Carmen einfach zu Hause, wegen Migräne oder Halsschmerzen. Zumindest behauptete sie das.
    Â»Ich bin dabei«, rief Julian und sprang auf.
    Â»Ich auch«, sagte Ines schnell.
    Sogar Veith raffte sich vom Sofa auf.
    Carmen drehte sich wieder zum Fenster. Sie war enttäuscht, und irgendwie konnte Ines das verstehen. Aber es macht eben einfach mehr Spaß, wenn Agnes dabei ist, dachte sie. Agnes ist einfach die coolste Oma, die es gibt.

3.
    Gleich hinter Agnes’ Haus lag der Grauweiher. Er war größer, als sein Name vermuten ließ, ein ausgedehnter See, der das Dorf vom nahen Wald trennte. Mit seinen schilfbewachsenen Buchten wirkte er romantisch und etwas düster. Seine Wasser waren eisgrau, überall nisteten Blesshühner. Es dauerte eine halbe Stunde, ihn zu umrunden – der übliche Familienspaziergang, wenn sie Agnes besuchten.
    Carmen und Veith gingen Arm in Arm voraus, Julian trottete dicht hinter ihnen mit seinen blauen Ohrenschützern auf dem Kopf. Er spielte mit einem Stock, schlug nach dem Schilfrohr und dachte sich wahrscheinlich irgendwelchen Unsinn aus. Ganz hinten folgten Agnes und Ines. Agnes war nicht mehr so schnell zu Fuß, und Ines wollte natürlich bei ihr sein, um sich zu unterhalten.
    Â»Als kleiner Junge ist dein Vater immer im See geschwommen«, plauderte Agnes. »Das Wasser war damals ganz sauber, es gab Unmengen an Fisch. Da konnte man abends einfach die Angel auswerfen – schwupp, schon hatte man einen Karpfen fürs Abendessen. Jetzt wird leider zu viel Gift von den Feldern hineingespült. Ein Jammer.«
    Ines konnte sich Veith so gar nicht als kleinen Jungen vorstellen, auch wenn sie alte Fotos gesehen hatte. Sie wusste, dass er und sein Bruder ihre Kindheit in dem Dorf verbracht hatten.
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