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Scherben

Scherben

Titel: Scherben
Autoren: Ismet Prcic
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sich den eigenen Arsch zu zerkauen, und du gehst ins Arbeitszimmer, fährst ein Videospiel hoch, ein Ego-Shooter, und du entscheidest dich für den SWAT-Commander, führst einen Trupp künstlich intelligenter Polizisten in eine belagerte Bank, um drei blonde weibliche Angestellte, die als Geiseln gehalten werden, vor maskierten Terroristen zu retten …
    … deine Mission besteht darin, Leben zu retten, und du musst den Weg nach draußen finden, durch ein Labyrinth aus Büros und Gängen voller Topfpalmen, Wasserspendern, Lüftungsanlagen, und du findest und rettest zwei der drei Angestellten, nur die dritte ist nirgendwo zu sehen, und du tötest alle Feinde und durchläufst immer wieder dieselben Szenen, weil du sie finden willst, aber es gelingt dir nicht, wenn du nicht alle drei rettest, kommst du nicht aufs nächsthöhere Level, also tötest du alle Feinde und aus Langeweile auch gleich noch deine Einsatzkollegen, aber sie kommen immer wieder und du tötest sie wieder, dann geht dir dieMunition aus, du nimmst ihre Waffen und richtest sie gegen sie …
    … und dann findest du die Frau und merkst, dass etwas mit der Programmierung des Spiels nicht stimmt, weil sie hinter einer Wand ist und du sie nicht dazu bringen kannst, mitzukommen, weil du sie nicht anklicken kannst …
    … und dann merkst du, dass da was in deinem echten Gesicht ist, dein Gesicht ist feucht, und du kannst nicht durch die Nase atmen, weil da so viel Zeug ist, und wozu soll das überhaupt gut sein, jemanden retten, und du stehst auf und holst noch mehr Alkohol, schnäuzt dir die Nase im Ärmel, aber dann nimmst du den Hörer und wählst die Nummer der Wohnung deiner Mutter im siebzehnten Stock, und du hörst es klingeln und klingeln in Bosnien, erwartest ihr kraftloses Hallo , das dich fertigmacht, dich kaputtmacht, aber es klingelt einfach und klingelt, und das Summen der Stille wird lauter, und dann kommt das elektronische Tuten und eine aufgezeichnete Stimme sagt, Tut mir leid, keiner zu Hause, rufen Sie bitte später noch mal an , und du kriegst Panik und wählst wieder und hörst dir das Ganze noch einmal an und noch einmal, und mit jedem Mal wächst die Panik, ein Teil deines Gehirns schreit WACH AUF , ein anderer betet, ein anderer stellt kühl fest, dass sie tot ist, noch ein anderer verneint, sie ist nicht tot , und du legst auf und wählst zum ersten Mal seit Monaten die Nummer deines Vaters, die Nummer dieses Arschlochs, und dein Bruder geht dran, er klingt schläfrig:
    – Was willst du?
    – Wo ist Mutter?
    – Woher zum Teufel soll ich das wissen? In ihrer Wohnung?
    – Solltest du es nicht wissen?
    – Leck mich.
    – Wo ist er ?
    – Schläft.
    – Ich will mit ihm reden.
    – Der ist da drin mit irgendeiner Schlampe, ich geh da nicht rein.
    – Du musst zu Mutter in die Wohnung gehen und nachsehen, jetzt.
    – Weißt du, wie spät es ist?
    – Sie geht nicht ans Telefon, du Arschloch.
    – Vielleicht hat sie eine Schlaftablette genommen. Vielleicht besucht sie eine Freundin. Vielleicht –
    – Du Wichser!
    – Geht sie spazieren? Vielleicht hat sie den Telefonstecker rausgezogen.
    – Vielleicht ist sie verflucht noch mal tot, du blöder Wichser? Vielleicht habt ihr beiden es endlich geschafft, ihr den Rest zu geben.
    – Warum kommst du nicht her und schaust nach ihr? Alles hat angefangen, als du weg bist, du Wichser. Weißt du noch? Alles. Du solltest hier sein, du Arschloch. Du solltest hier sein und das alles mitmachen. Scheiß Wichser …
    … und die Verbindung wird unterbrochen, und du wirfst das schnurlose Telefon auf das massive Schneidebrett, es zerbricht in Stücke, und du holst die Flasche Wodka aus der Speisekammer und trinkst, bis du nicht mehr denken kannst, nicht mehr verstehst, warum du heulst …
    … der Morgen macht wieder alles neu, verjagt das andere Leben, das Kriegsgeheul der Apachen und die Bilder von wackelnden Turnschuhen, und obwohl es in deinem Hals dumpf pocht und dir das Schlucken schwerfällt, gehst du raus zu deinem Wagen und holst so viele Klamotten, wie du tragen kannst und stopfst eine Maschine voll mit Wäsche, dann suchst du im Haus nach Essbarem und Geld. Du versuchst es bei deiner Mutter, aber niemand meldet sich. Du rufst deinen Vater an. Mehmed legt auf, bevor du etwas sagen kannst. Du trinkst den Rest Wodka und guckst zu, wie Judge Judy Leute anschreit, bis die Maschine fertig ist und der Trockner die Wäsche getrocknet hat.
    Dir fällt ein, dass du vergessen hast, das Videospiel
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