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Scherben

Scherben

Titel: Scherben
Autoren: Ismet Prcic
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fehlendem Zahn. In dem Bett dahinter, dem des Toten, lag nun ein anderer Kandidat, noch eine zerfurchte Stirn, noch zwei trockene Astärmchen, noch mehr Keuchen und Wimmern. Durchs Fenster konnte man den Himmel vor lauter Wolken nicht sehen. Draußen fiel der Regen. Draußen fielen Granaten. Und die Welt brach auseinander.
    Die Schwestern wechselten Mustafas Pissbeutel (oft) und Kackbeutel (selten), kommentierten Menge, Farbe, Häufigkeit. Sie drückten ihm salzigen Matsch in den kaum geöffneten Mund und massierten seitlich seine Kehle, um ihm das Schlucken zu erleichtern. Sie fuhren mit lauwarmen Schwämmen über die Oberfläche seines rasant verkümmernden Körpers, bedachten die haarigen Ritzen und Winkel mit besonderer Sorgfalt.
    Die Ärzte wechselten die Verbände um Kiefer und Hals, betrachteten die Stiche aus allen Richtungen, lächelten traurig und berührten seine Schulter. Die Familienangehörigen von Mustafas Zimmernachbarn ignorierten ihn meistens, so wie sie auch ihre unglückseligen alten Verwandten ignorierten. Sie wuselten herum, gaben sich Mühe, ihnen nicht in die Augen zu blicken, fummelten an den Decken, den Vorhängen, den Trinkflaschen. Sie küssten sie flüchtig auf die Stirn, drückten ihnen kurz, aber fest die Arme, nuschelten lahme Worte der Ermutigung und verabschiedeten sich schnell wieder.
    Von seiner Familie kam niemand, jedenfalls nicht, während er bei Bewusstsein war. Es fiel ihm schwer, sich seineVerwandten geistig vor Augen zu rufen. Seine Erinnerungen waren konfus und unscharf. Nur die Frau, die sich für seine Mutter hielt, kam jeden Abend nach Ende der Besuchszeit, wahrscheinlich stahl sie sich aus der Station im Obergeschoss zu ihm. Sie hielt seine Hand, tätschelte ihm die Stirn. Sie seufzte und weinte, fragte ihn, weshalb er so distanziert sei und ob er sich an dieses oder jenes erinnere. Sie erzählte ihm Neuigkeiten von seinen angeblichen Verwandten: Sein Onkel Fajko war eingezogen worden, die Garage seines Vaters war von einer Granate getroffen worden, das Auto sei ein Totalschaden, seinem Bruder fiel es schwer, sich an der neuen Schule einzuleben, er wolle die ganze Zeit bloß schlafen. Sie brachte ihm sogar einen Brief mit, den er angeblich von der Armee erhalten hatte, und las ihn laut vor.
    »Leider müssen wir Ihnen … mitteilen«, sagte sie schniefend, »dass Ihre Einheit … während eines feindlichen Gegenangriffs dezimiert …«
    Ihre Gefühle machten mit ihr, was sie wollten, und plötzlich fing sie an laut zu schluchzen, faltete den Brief zusammen, steckte ihn in einen blauen Umschlag und ließ ihn auf seinem Nachttisch liegen.
    »Ich kann nicht«, flüsterte sie. »Ich kann nicht.«
    Was für eine Überzeugung , dachte er.
    »Da sind fast alle aus deiner Einheit aufgeführt … sie sind alle tot …«
    In dem Moment, in dem Kralle hereinkam, erinnerte sich Mustafa an alles. Er erinnerte sich an die Planierraupe, an den Hinterhalt und den Regen. Er erinnerte sich an den Baum und das Stück vom Baum, das auf ihn fiel. Er erinnerte sich an den Gestank von Scheiße und den kalten Kranz seiner Gebete in der Nacht. Er erinnerte sich an seine wahre Mutter, seinen wahren Vater und seinen wahren Bruder. Seine Familie. Er erinnerte sich an alles.
    Er erinnerte sich auch an das, was Kralle für ihn tat, dass er ihn bei seinem Namen rief, dass er zurückkam, um ihn zu holen, weil nie ein Mann zurückgelassen wurde. Er erinnerte sich, dass Kralle eine Woche nach Kriegsende ums Leben kommen würde, oder besser gesagt, das wusste er. Wie seltsam , dachte er. Er wusste, dass sein Kriegskamerad unterwegs zum Kommandobereich sein würde, um den Orden der Goldenen Lilie entgegenzunehmen, und dass infolge der Salzwassernutzung der Stadt der Asphalt unter seinen Füßen einbrechen und er in ein tiefes Loch fallen und sich das Genick brechen würde.
    »Was ist los Mustafa, du Schlappschwanz«, brüllte Kralle. »Bist du das oder hat jemand geschissen?«
    Mustafa wollte seinem Apachenfreund erzählen, woran er sich erinnerte und was er wusste, aber der Schmerz in seiner Kehle war unerträglich. Er konnte ihn nur ansehen, und als er das tat, konnten seine Augen eine Weile nichts anderes als weinen.
    »Du heulst, du Jammerlappen«, sagte Kralle, sah weg und würgte etwas hinunter, bevor es zu groß wurde. Dann ging er um das Bett herum und setzte sich auf den Stuhl. Ihm fehlten die Worte. Er schluckte hörbar.
    »Sooty lässt grüßen. Es geht ihm besser. Die haben ihn ordentlich
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