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Scherben

Scherben

Titel: Scherben
Autoren: Ismet Prcic
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in zu engen weißen Kitteln zurückkam, die eine Bahre heranrollten, deren linkes, mit Klebeband geflicktes Hinterrad entsetzlich quietschte. Sie arbeiteten schnell. Der Arzt, ein schäbiger Typ mit blutunterlaufenen Augen, werkelte am Toten herum. Er hielt ihm einen Taschenspiegel unter die Nase, zog an seinen Lidern und starrte ihm in die Augen, er nahm seine Arme und versuchte sie anzuheben. Er wies die Muskelprotze an, den Toten auf die Seite zu rollen, dann zog er ihm das Schlafanzugoberteil aus der Hose und betrachtete die Haut auf dem Rücken, kritzelte irgendwas auf ein Blatt Papier auf einem Klemmbrett. Dann ging er raus. Die Muskelprotze hoben den Kadaver wie eine groteske Schaufensterpuppe vom Bett auf die Bahre und verschwanden ebenfalls, die Räder quietschten den Gang hinunter. Die Schwester, an der das Aufräumen hängenblieb, zog die Bettwäsche ab und stopfte sie in einen Plastiksack, dann drehte sie die dünne, fleckige Matratze um und bezog sie neu. Als sie ihren Wagen wegrollte, blieb keine Spur mehr von dem toten Mann zurück.
    Schwestern fütterten alte Männer mit Brot und salziger, bräunlicher Brühe. Sie sprachen zu ihnen wie zu Kindern, und die alten Männer führten sich auf, sie spuckten undfluchten und zeigten ihnen, dass sie noch da waren. Mirsad wandte sein markantes Bussard-Profil immer wieder von ihnen ab, weigerte sich zu essen. Schließlich gaben es die Schwestern auf und gingen. Was Mustafa betraf, so konnte er seinen Mund gar nicht öffnen, die Infusion tropfte ihm ein geschmackloses Frühstück direkt ins Blut.
    »Großvater«, rief eine blecherne Stimme aus dem Gang, und Mustafa und Mirsad wandten sich zur Tür. Mirsad lachte spöttisch auf, als wüsste er bereits, was jetzt kam.
    Ein blondes Mädchen von ungefähr fünf oder sechs Jahren mit einem roten Hut und passender Windjacke rannte in den Raum und blieb auf halbem Wege zwischen der Tür und dem leeren Bett wie angewurzelt stehen. Seine eben noch raschelnden Ärmel machten keinen Laut mehr, und obwohl es weiterhin lächelte, waren seine Augen vor Verwunderung geweitet, als es seinen Blick von dem leeren Bett löste und von einem zum anderen guckte, auf der Suche nach einem bekannten Gesicht.
    »Großvater«, wiederholte das Mädchen jetzt mit etwas weniger Elan. Sein Lächeln flaute ab.
    »Deinen Großvater gibt es nicht mehr, kleines Mädchen«, sagte Mirsad.
    Das Mädchen drehte sich irritiert um. Seine kleinen Zähne bissen auf seine Unterlippe.
    »Dein Großvater ist heute früh gestorben.«
    Das Mädchen stand da, starrte auf das leere Bett. Mustafa hätte Mirsad am liebsten seinen Infusionsständer wie einen Speer in die irre Aasgeierfresse gerammt, scheiß auf seine eigenen Schmerzen.
    Irgendetwas machte Klick in dem Mädchen, und es stieß einen Schrei aus. Mustafa war froh, dass es das in sich hatte.
    Es machte einen schüchternen Schritt zurück, schaffte es aber nicht bis zur Tür. Stattdessen kam seine Mutter, eine bleiche, birnenförmige Frau, und nahm es in die Arme,legte ihm sanft die Hand auf den Hinterkopf, wie bei einem Säugling. Sie machte weiche, beruhigende Geräusche, schhhhhhhh schhhhhhh schhhhhhh , und schob das Mädchen aus dem Zimmer.
    Ein Mann streckte den Kopf herein und glotzte blöd. Er war grauhaarig, aber im Ohr trug er einen lächerlichen Ring.
    »Wo ist er denn hin?« Seine Frage wirkte rein rhetorisch, gemessen an der Lautstärke und Betonung. Dann begegnete er Mirsads Blick und richtete seine nächste Frage an ihn.
    »Wo haben sie ihn hingebracht?«
    »In den Himmel«, sagte Mirsad.
    Der Mann machte ein noch dümmeres Gesicht und verschwand aus dem Türrahmen. Mustafa hörte ihn etwas zu seiner Frau sagen und dann eine Schwester rufen.
    »Menschen«, sagte Mirsad zu Mustafa. »Sie haben alles verdient, was ihnen widerfährt.«
    Draußen im Gang kam es zum Tumult, und der grauhaarige Mann mit dem Ohrring stürzte erneut ins Zimmer, seine Arme durchschnitten die Luft.
    »Er war doch gestern noch hier«, rief er. »Wir haben über seinen Pflaumenbaum gesprochen, und ich habe ihm Maisbrot zu essen gegeben. Genau hier.« Er gestikulierte in Richtung des faltenfreien Kissenbezugs.
    Die Schwester, die seinem toten Vater Blut abnehmen wollte, kam herein. Sie wirkte jetzt lebhafter und professionell reserviert.
    »Mein Beileid«, entgegnete sie und betrachtete ihre Schuhe.
    »Wir konnten nichts mehr für ihn tun. Seine Zeit war gekommen.«
    Mirsad grunzte spöttisch.
    Der Mann sah erst ihn an,
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