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Scherben

Scherben

Titel: Scherben
Autoren: Ismet Prcic
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bebende Hand auf seine Stirn.
    »Wie geht es dir, mein Sohn?«, flüsterte sie und lächelte, ein erschreckendes Lächeln.
    Er hatte gewusst, dass sie das sagen würde. Das war der Grund seines Entsetzens. Weil er sie erkannt hatte, gleich im ersten Moment, so wie man seinen persönlichen Todesengel erkennt. Es war nicht das Gesicht oder die Kleidung oder das Verhalten. Er erkannte sie als Archetypus. Sie war eine Mutter. Aber seine?
    Nein, nicht seine.
    Der Mann links vom Bussard keuchte und röchelte die ganze Nacht. Er hustete und murmelte, jaulte, heulte und schluchzte ununterbrochen. Er schrie nach den verfluchten Schwestern, nach dem verfluchten Arzt, nach seiner Mutter. Er schrie nach Gott. Keiner ließ sich blicken. Er heulte und fluchte immer weiter, und im Morgengrauen verstummte er.
    Der Blick des Bussardmanns war immer noch irre, aber er signalisierte Solidarität und Erleichterung, dazu Bedauern über das Dahinscheiden eines Menschen, auch wenn er sagte, dass es verdammt noch mal Zeit wurde. Er war jetzt nicht mehr nur verrückt und ans Bett gefesselt, sondern auch noch geknebelt. Er war stumm und konnte sich nicht bewegen, wie Mustafa.
    So lagen sie den ganzen frühen Morgen und starrten einander schmerzerfüllt und glupschäugig an. Sie kommunizierten Mitgefühl, machten sich gegenseitig Mut, verdrehten die Augen, wenn die anderen im Zimmer furzten, krächzten oder wimmerten. Allmählich, während das graue Licht durch die Fenster sickerte, offenbarte sich der Raum in all seinen Einzelheiten. Die Bäume pochten mit den Spitzen ihrer Zweige an die Scheiben, vom Wind genötigt.
    Um acht Uhr kam schließlich eine Schwester, sie schob einen Wagen. Die Schwester sah aus, als hätte sie eine Nachtschicht im Salzbergwerk hinter sich, als sei das Krankenhaus ihr Zweitjob. Sie schlurfte, ihre Haare kräuselten sich, ihre Bewegungen wirkten schlaftrunken.
    »Ich muss Ihnen Blut abnehmen«, sagte sie zu dem Toten.
    Der Bussardmann sah erst Mustafa an, als wollte er sagen, verfluchte Scheiße , dann nuschelte er durch seinen Knebelmund und machte die Schwester mit Blicken auf sich aufmerksam, was ihm auch gelang.
    »Benehmen wir uns heute besser, Mirsad?«, fragte sie ihn, zog eine Metallkiste unten aus dem Wagen und nahm eineSpritze heraus. Mirsad nuschelte eine verstümmelte Antwort. Sein Blick sprang wild von links nach rechts.
    »Siehst du? Da haben wir’s. Ich kann deinen Knebel nicht rausnehmen, wenn du dich so aufführst.« Sie nahm die Spritze aus der Plastikverpackung. »Wenn du willst, dass ich ihn rausnehme, musst du mir versprechen, ein braver Junge zu sein und nicht mehr zu schreien und zu fluchen. Kannst du das für mich tun?«
    Mirsad nickte.
    »Versprochen?«
    Mirsad nickte. Sie bewegte sich wie ein Zombie auf ihn zu und band den Knebel los.
    »Wenn du mir zeigst, dass du brav und anständig sein kannst, mach ich dich später vielleicht sogar vom Bett los.«
    Der Knebel wurde entfernt, und Mirsad öffnete und schloss den Mund, streckte die Zunge raus, versuchte seine verkrampften Muskeln zu lockern. Schalk blitzte in seinen Augen.
    Die Schwester beugte sich über den Arm des Verstorbenen und versuchte eine Vene zu finden, doch sie sah ihm nicht ins tote Gesicht. Mechanisch schlug sie mit den Spitzen ihrer behandschuhten Finger auf das schwammartige Fleisch unterhalb seines Bizeps.
    Mirsad betrachtete sie voller Verachtung, dann blickte er zu Mustafa, um zu sehen, ob dieser seine Entrüstung teilte. Ihre Blindheit schien ihm unbegreiflich. Er folgte ihren Bewegungen mit den Augen, öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, überlegte es sich aber anders und schüttelte nur den Kopf. Sie stach die Nadel ins tote Fleisch.
    »Wenn Sie die Nadel in die Wand da drüben stechen«, sagte Mirsad, »kommt mehr Blut raus.«
    Sie schenkte ihm einen müden Blick, aber er hatte sich abgewandt, schaute zum Fenster.
    »Wie bitte?«
    Aber er wollte nichts mehr sagen. Endlich sah die Schwester dem toten Mann in die Augen, fuchtelte mit der Hand davor herum, hielt ihm zwei Finger an die Halsschlagader und trat dann vom Bett zurück, das Gesicht knallrot. Sie drehte sich um und ging aus dem Zimmer, eiliger als vorher, dabei wischte sie sich die Hände an ihrem Kittel ab.
    Mustafa brach in Gelächter aus, das aber nur eine Sekunde anhielt, bis der entsetzliche Schmerz in seiner Kehle wieder einsetzte und ihn verstummen ließ.
    Es dauerte lange, bis die Schwester mit einem Arzt und zwei kahlrasierten Muskelprotzen
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