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Scherben

Scherben

Titel: Scherben
Autoren: Ismet Prcic
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umschlossen war (so was nennt man einen roundabout , fiel ihm wieder ein) und der sich mitten in einer Stadt befand, die er irgendwie als Edinburgh erkannte. Alles stand ihm ganz klar vor Augen. Er wusste auch, was er dort machte; er spielte in einem Theaterstück, er kannte seine nächste Zeile. Da waren die anderen Schauspieler. Und obwohl er direkt in seine Rolle sprang, sich fallen ließ, zwanzig Liegestütze machte, laut auf Englisch zählte und sein Gesicht in den Schlamm zwang, war ein Teil von ihm entgeistert. Konnten sich Flash- forwards wie Flashbacks anfühlen? Es war ganz einfach nicht möglich, sich an einen Ort zu erinnern, den man nie besucht hat, oder an ein Stück, das man nicht kannte.
    Er ließ sich vor einer mächtigen schottischen Eiche auf die Knie fallen und sagte seine nächste Zeile. »Lieber Gott, gib uns Druckbleistifte und Erlösung«, sang er mit geschlossenen Augen, das Gesicht zum Himmel gekehrt. »Bringe unsere Mütter zurück und lass sie in Cognac baden, Allmächtiger. Schenke uns Bäder zum Eintauchen und Walnusswälder für ausgelassene Spiele. Versetze uns in Angst und Schrecken, damit wir unser moralisches Gleichgewicht nicht verlieren. Fick uns zu Scherben.«
    Urplötzlich verließen alle anderen Schauspieler durch ein Loch im Maschendrahtzaun den Park. Hinter dem Zaun sah Mustafa seinen Regisseur (Asmir heißt er) mit einer beleibten Polizistin sprechen und ihr mit Nachdruck etwas erklären. Ihr kleiner weißer Polizeiwagen stand mit blinkenden Lichtern auf dem Bordstein, die Tür zur Fahrerseite war sperrangelweit geöffnet. Schubweise sammelten sich Passanten, gafften und machten Schnappschüsse.
    Jetzt war er alleine im Park, im Zentrum von allem. Die Polizistin kam zum Zaun und zeigte auf ihn.
    »Sie haben nicht die notwendigen Dokumente, um hier aufzutreten, Sir!«, sagte sie.
    »Mach unsere Fotzen weit, damit wir keine Geburtsschmerzen spüren«, schrie Mustafa seine nächste Zeile.
    »Hören Sie auf!«, schrie die Polizistin. »Die Aufführung ist zu Ende!«
    Ein weiterer Polizeiwagen fuhr vor, zwei Polizisten sprangen heraus. Mustafa wandte sich von ihnen ab und kroch auf den Baum zu. Er legte seinen Kopf auf den Boden und erhob sich dann wieder in eine kniende Position. Das machte er immer und immer wieder, er konnte nicht aufhören. Jedes Mal, wenn er seine Augen öffnete, sah er, dass die Mengegrößer geworden war. Seine Kollegen signalisierten ihm, aufzuhören, aber er machte immer weiter, runter und rauf und runter und rauf, wieder und wieder.
    Jemand filmte ihn mit einem Camcorder, ein roter Punkt in der Menge. Mustafa hob den Kopf und schrie.
    Dann: Magie. Über ihm brach ein dicker, trockener Ast mit einem satten Krachen, rauschte durchs Laub und knallte vor ihm auf den Boden.
    Ich würge. Er drückt mir die Kehle zu. Ich versuche, ihn von mir zu schieben, aber es gelingt nicht. Meine Arme sind knochenlos, reines Fleisch. Sie biegen sich, wenn ich drücke. Ich grabe meine Nägel in die Borke, suche verzweifelt nach Halt. Zweige und Borkenfragmente fallen mir ins Gesicht, in die Augen, in den Mund. Kugeln zischen über den Baum hinweg. Ich kann nicht atmen. Ich kann nicht atmen.
    Dann atme ich, und die Luft füllt meinen Rachen, meine Lungen, meinen Kopf mit Schmerz. Ich sehe Sterne. Ich atme aus.
    »Mustafa«, ruft Kralle, haucht mir seinen fauligen Atem ins Gesicht, und ich hole erneut Luft. Aber der Schmerz … Der Schmerz ist …
    Mustafa warf sich hin und her, fuchtelte mit dem Ast und lachte. Ihm fiel wieder ein, wie ihm beim letzten Mal eingefallen war, wer er war. Der Groschen war wie ein Hammerschlag gefallen, als ihn Kralle in der Klapse besuchte, in diesem Krankenzimmer mit dem vogelartigen Mann im Bett neben ihm. Ihm war sofort alles wieder eingefallen: wie Kralle ihn die ganze Nacht zwischen den Schützengräben liegen ließ, wie er vor der Morgendämmerung zurückkam, wie er ihm ein Seil umband und ihn den Hügel hinunterzog, in Sicherheit. Und jetzt fiel ihm auch wieder ein, welches seltsame Ende Kralle später fand. Nur an eines konnte er sich ums Verrecken nicht erinnern: was das alles zu bedeuten hatte.
    Die Polizisten bekamen schließlich das Tor auf, und Mustafa, das Gesicht voller Schlamm, Blut und Spucke, ging ruhig auf sie und die rotäugigen Kameras zu.
    Mirsad, der Bussardmann, wurde weggebracht. Nicht nur er, sondern sein ganzes Bett. Die mintgrüne Lücke, die Mustafa nun gezwungen war, den ganzen Tag anzusehen, war ein Lächeln mit
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