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Godspeed Bd. 1 - Die Reise beginnt

Godspeed Bd. 1 - Die Reise beginnt

Titel: Godspeed Bd. 1 - Die Reise beginnt
Autoren: Beth Revis
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1
    Amy
    »Lass Mom als Erste gehen«, sagte Dad.
    Mom wollte, dass ich als Erste ging. Ich schätze, weil sie Angst hatte, dass ich einfach weggehen und in mein Leben zurückkehren würde, sobald sie eingefroren waren, statt mich ebenfalls in einen dieser durchsichtigen Kästen zu legen. Aber Dad bestand darauf, dass Mom den Anfang machte.
    »Amy muss sehen, wie es abläuft. Geh du zuerst und lass sie zusehen. Dann kann sie gehen und ich werde bei ihr sein. Ich komme dann als Letzter.«
    »Geh du zuerst«, sagte Mom. »Ich gehe als Letzte.«
    Aber der langen Rede kurzer Sinn – man muss dabei nackt sein, und keiner von beiden wollte, dass ich ihn nackt sah (nicht, dass ich scharf darauf gewesen wäre – igitt, bloß nicht), aber das gab den Ausschlag. Es war das Beste, wenn Mom die Erste war, weil wir die gleichen Körperteile haben und so.
    Sie sah ohne ihre Klamotten ganz knochig aus. Ihre Schlüsselbeine stachen heraus; ihre Haut war so dünn wie die von alten Leuten und erinnerte mich an Reispapier, das zu stark mit Feuchtigkeitscreme eingeschmiert wurde. Ihr Bauch – den sie sonst immer unter ihrer Kleidung kaschierte – hing schlaff und faltig, was sie irgendwie noch verletzlicher und schwächer aussehen ließ.
    Den Männern, die in dem Labor arbeiteten, schien die Nacktheit meiner Mutter genauso gleichgültig zu sein wie die Anwesenheit von mir und meinem Dad. Sie halfen ihr, sich in die durchsichtige Gefrierbox zu legen. Das Ding hätte ausgesehen wie ein Sarg, aber in Särgen gibt es Kissen und sie sehen entschieden gemütlicher aus. Diese Kryobox erinnerte eher an einen großen Schuhkarton.
    »Es ist kalt«, sagte meine Mom. Ihr blasser weißer Körper lag flach auf dem Boden der Box.
    »Sie werden nichts merken«, versicherte ihr einer der Techniker. Auf seinem Namensschild stand Ed.
    Ich schaute weg, als der andere, Hassan, meiner Mutter die Infusionsnadeln verpasste. Eine in den linken Arm, in die Ellbogenbeuge, und eine in die rechte Hand, in die große Vene über den Fingerknöcheln.
    »Entspannen Sie sich«, sagte Ed. Es war ein Befehl, kein mitfühlender Vorschlag.
    Mom biss sich auf die Lippe.
    Das Zeug in dem Infusionsbeutel floss nicht wie Wasser. Es war wie äußerst zähflüssiger Honig. Hassan quetschte den Beutel zusammen, damit es schneller durch den Schlauch und in die Vene lief. Es war leuchtend blau, so blau wie die Kornblumen, die Jason mir bei der Abschlussfeier geschenkt hatte.
    Meine Mutter zischte vor Schmerz. Ed entfernte eine gelbe Plastikklammer vom Schlauch des leeren Infusionsbeutels an ihrem Ellbogen. Leuchtend rotes Blut schoss den Schlauch hinauf und in den Beutel. Moms Augen füllten sich mit Tränen. Der blaue Glibber der Infusion schimmerte durch die Venen meiner Mutter, als sich das Zeug in ihrem Arm hocharbeitete.
    »Müssen warten, bis es das Herz erreicht«, sagte Ed und warf uns einen Blick zu. Dad ballte die Fäuste. Er ließ Mom nicht aus den Augen. Sie hatte die Augen zugekniffen, an ihren Wimpern hing je eine Träne.
    Wieder quetschte Hassan den Beutel mit dem blauen Glibber. Ein dünnes Rinnsal Blut sickerte unter Moms Zähnen heraus, wo sie sich auf die Lippe biss.
    »Das Zeug sorgt dafür, dass das Einfrieren funktioniert«, sagte Ed so beiläufig wie ein Bäcker, der gerade erklärt, wie Hefe Brot aufgehen lässt. »Ohne diese Masse würden sich in den Zellen Eiskristalle bilden, die die Zellwände sprengen. Das Zeug macht die Zellwände stärker, klar? Das Eis kann ihnen nichts anhaben.« Er warf einen Blick auf Mom. »Tut aber sauweh, wenn es reinfließt.«
    Ihr Gesicht war blass, und sie lag in diesem Kasten und bewegte sich nicht, als könnte eine einzige Bewegung sie zerbrechen lassen. Sie sah aus, als wäre sie schon tot.
    »Ich wollte, dass du das siehst«, flüsterte Dad. Er sah mich dabei nicht an – er starrte immer noch auf Mom hinunter. Er blinzelte nicht einmal.
    »Wieso?«
    »Damit du vorher weißt, wie es ist.«
    Hassan knetete immer noch auf dem Beutel mit dem blauen Glibber herum. Einen kurzen Moment lang verdrehten sich die Augen meiner Mutter nach oben, und ich dachte, sie würde ohnmächtig, aber sie wurde es nicht.
    »Gleich geschafft«, sagte Ed und betrachtete den Beutel mit Moms Blut. Der Fluss hatte nachgelassen.
    Der einzige Laut im Raum war Hassans schweres Atmen, als er die Seiten des Glibberbeutels zusammendrückte. Und ein leises Geräusch von Mom, das sich anhörte wie ein sterbendes Kätzchen.
    Ein mattblauer Schimmer
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