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Scherben

Scherben

Titel: Scherben
Autoren: Ismet Prcic
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erwischt, in den Bauch und in den Arsch, aber es geht ihm besser. Der Bulldozer ist ihm über den Fuß gerollt, und sie haben ihm die Ferse abgeschnitten. Er fährt nach Kalifornien, in einen Ort namens Thousand Oaks, da bekommt er eine neue gemacht. Sie lassen ihn raus.«
    Mustafa strengte sich an, ihm in die Augen zu sehen, aber Kralle beugte sich auf seinem Stuhl vor, die Ellbogen auf den Knien, die Hände erkundeten einander, durchliefen sämtliche Stellungen. Sein Blick sprang zur Seite, und gelegentlich wurden sie von seinem Tic ergriffen. Dann sah er den blauen Umschlag auf dem Nachttisch, und er nahm ihn.
    »Diese Wichser«, sagte er, als er den Brief entfaltet hatte und überflog. »So einen hab ich auch bekommen: Dein Land dankt dir für deine heldenhaften Dienste in diesen Zeiten des Krieges. Wir haben euch auf eine verfluchte Mission in einer beschissenen Planierraupe geschickt, und ihr wurdet alle getötet. Tschetniks haben das Dorf am nächsten Tag zurückerobert, also war alles umsonst. Danke für euer Leben. Im Gegenzug werden wir eure Namen auf diesem Blatt Papier auflisten und uns nicht einmal die Mühe machen, eure Apachennamen herauszufinden. Diese verfluchten Arschlöcher.«
    Er nahm einen Stift aus der Tasche und fing an, die Namen der Soldaten auszustreichen und durch ihre Spitznamen zu ersetzen.
    Aus Almir Mutevelić wurde Steamboat.
    Aus Dragan Krstić wurde Ninja.
    Aus Vedran Delić wurde Klumpen.
    Aus Damir Verlašević wurde Hammer.
    Doch in der Anrede hatte Kralle aus irgendeinem Grund den Namen desjenigen übermalt, an den der Brief gerichtet war, und mit runder Schreibschrift Mustafa darübergeschrieben. Als Mustafa das sah, wurde ihm klar, dass er recht hatte, dass die Frau irre war und der Brief an einen anderen gerichtet war, nicht an ihn. Als er das Blatt betrachtete, konnte er unter dem ungleichmäßigen schwarzen Tintenrechteck nur den ersten Buchstaben des Vornamens in der Anrede lesen, der aussah wie ein L oder vielleicht auch ein I. Es war, als würde man ein von der Regierung zensiertes Dokument lesen, man konnte unmöglich hundertprozentig sicher sein.

(… die absurdität der realität, die irrsinnige, verfluchte unwahrscheinlichkeit von allem …)
    (…) Es ist mir eingefallen, Eric. Es ist mir im Traum eingefallen. Endlich verstehe ich ALLES! Hör zu:
    Am Anfang war das Licht. Am Anfang war das Wort. Am Anfang war die Stimme. Am Anfang war die Stimme, die mit Worten das Licht schuf, indem sie das Wort Licht in die Leere sprach. Also ward Licht, und alles andere folgte daraus. Wenn etwas aus nichts erschaffen werden kann, dann bestehen etwas und nichts aus demselben Material, sozusagen. Wenn etwas durch eine Äußerung aus dem Nichts erschaffen werden kann, dann liegt der einzige Unterschied zwischen etwas und nichts im Benennen. Indem man nichts als etwas bezeichnet, wird aus nichts etwas , aber im Großen und Ganzen hat sich eigentlich nichts geändert. Die physische Beschaffenheit von nichts/etwas , wenn man das überhaupt so bezeichnen kann, bleibt dieselbe.
    Das bedeutet: Himmel = Hölle = Purgatorium = Leere = zu Gott zurückkehren. Ewiges Leben = ewiger Tod. Mahatma Gandhi = Adolf Hitler. Al Qaida = UNICEF. Gut und Böse sind ununterscheidbar. 0 = 1 = 2 = 3 = … = ewig.
    Nichts ist alles, weil es gar nichts gibt.
    Das Traurige ist nur, dass ein paar Bestandteile dieses Nichts erst sich selbst und anschließend auch noch eine Sache namens Realität erdacht und erschaffen haben. Die kleinen Nichtse verfingen sich in der von ihnen erfundenen Realität , und ließen sie sehr komplex und zyklisch werden, und zwar so sehr, dass sie darüber vergaßen, dass sie eigentlich, im Grunde ihres Wesens, immer noch nichts waren. Es machte sie dumm. Es machte sie real .
    Wir sind die Nachfahren dieser dummen, realen Menschen, die vergessen haben, dass sie nichts sind. Deshalb begeben wir uns auf ausgedehnte Reisen von nichts zu nichts, wir beginnen im Nichts und enden im Nichts, wir verlassen das Nichts nie, aber wir verlängern unseren Irrglauben ins Unendliche. Im Grunde wissen wir, dass wir nichts sind, aber wir haben zu große Angst, darüber nachzudenken. Die ganze Zeit über, in der wir diese Reise von nichts zu nichts unternehmen, spüren wir, hoffen wir, dass da draußen jemand ist, dass da etwas ist, eine dritte Präsenz , die über uns wacht, uns erzählt, unser Dasein erträumt, und wir hoffen, dass diese Wesenheit etwas bedeutet, etwas ist .
    Was ist dieses Etwas, von
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