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Das Herz ist eine miese Gegend

Das Herz ist eine miese Gegend

Titel: Das Herz ist eine miese Gegend
Autoren: Thommie Bayer
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EINS
    Kennedy starb vor Winnetou. In einem BlaupunktRadio der eine und im Scala beim Bahnhof der andere. Ein Buch lag auf einer Kommode, es hieß »Der gelbe Stern«. Ein Kind betrachtete die Bilder darin und bekam davon ein Siegel aufdie Seele. Ein Bauplatz kostete achtzigtausend Mark und ein Fertighaus mit Fundament hundertzwanzigtausend. Eine Oma hatte soviel Geld gespart. Eine Sache, die einem gefiel, nannte man »prima«.
     
    Im Hochsommer neunzehnhundertsechsundsechzig stellte Giovanni fest, daß die Dinge zwei Seiten haben. Mindestens. Es war ein Tag im August, er ließ gerade einen Haufen trockener Erde von der Schippe rutschen, wischte sich den Schweiß von der Stirn und eine Dreckspur drauf, warf die Schippe aus dem Graben, in dem er arbeitete, und nahm einen Schluck Mineralwasser aus der Flasche. Lauwarm.
    Das Mineralwasser hieß damals noch saurer Sprudel.
    Giovanni war genau dreizehn Jahre, drei Monate und sechzehn Tage alt, die Sonne stand senkrecht am Himmel, sein Vater war eben im nahen Gebüsch verschwunden, für kleine Mädchen, wie er mit einem Augenzwinkern gesagt hatte; sein Bruder Norbert war mit seinem Bruder Arno fortgegangen, um eine neue Kiste sauren Sprudel zu holen, und irgendwas biß Giovanni in den Kopf.
    »Au«, schrie er und faßte sich an die schmerzende Stelle, aber da war nichts.
    Er fuhr suchend mit der Hand herum in seinem dichten Haarschopf, fand kein Blut, fand keinen Vogel, keine Spinne, keinen Käfer, fand nichts, was ihn hätte gebissen haben können, und nichts, was überhaupt auf einen Biß oder sonst eine Verletzung hinwies. Komisch.
    Er schippte weiter.
    Beim nächsten Biß, in fast dieselbe Stelle, fiel ihm vor Schreck die Schippe aus der Hand. Diesmal tat es viel mehr weh. Wieder suchte er tastend den Hinterkopf ab, und wieder war da nichts.
    Die Hand noch am Kopf, setzte er sich auf den Grabenrand und versuchte, aus den seltsamen Ereignissen schlau zu werden, da hörte er ein dünnes, aber scharfes Stimmchen sagen: »Kannst lange suchen, Depp.«
    Er sah sich um, und da war nichts, was sprechen konnte.
    Jetzt kam die Stimme aus einer anderen Richtung und meinte: »Optisch erst recht.«
    »Was ist denn jetzt los?« sagte Giovanni zu sich selber, denn an die Stimme glaubte er noch nicht. Er hielt sie für Einbildung.
    »Los ist«, antwortete die Stimme gutgelaunt, »daß du jetzt deine Strafe kriegst.«
    »Was?« Giovanni begann sich zu fragen, ob die ganze Sache für eine Einbildung nicht etwas zu ausgefallen sei.
    »Deine Strafe, Depp, Strafe. Das ist so was, wo dir auch weh tut. Dafür isses da.«
    »Für was denn eine Strafe, wer bist du, was hab ich dir getan, wieso seh ich dich nicht?« haspelte Giovanni aufgeregt in alle Richtungen.
    »Für was denn eine Strafe, für was denn eine Strafe«, äffte ihn die Stimme nach. »Dafür, daß du zu den Katzen hältst, vielleicht. Wer bin ich. Ich bin Zelko. Ich bin eine Maus. Ich bin tot, und du bist am Leben, und außerdem hast du die Augen am Arsch.«
    Giovanni war völlig perplex. Er versuchte, hinter den Sinn der Worte zu kommen, aber wußte nicht, wie. Ein erneuter Biß schreckte ihn auf, und er schrie: »Wieso halt ich zu den Katzen, wieso bist du tot?« Diesmal tat es noch ein bißchen mehr weh.
    Bißchen, dachte er, ist genau das richtige Wort. Die Stimme, jetzt wieder aus einer neuen Richtung, sprach: »Natürlich hast du keine Ahnung. Hattest du damals schon nicht. Jetzt hast du noch keinere, weil du mich nicht siehst. Aber ich hab Ahnung. Ich seh dich, und ich plag dich, bis du deine Strafe weghast.«
    »Aber erklär mir doch, was los ist«, bat Giovanni jämmerlich, und ihm wurde unheimlich, trotz des klaren Himmels und der Sonne, die senkrecht herabschien.
    »Keine Lust«, sagte die Stimme, »du hörst noch von mir« und, schon etwas weiter entfernt: »Tschau, Katzist.«
    Giovanni ließ sich mit dem Rücken an der Grabenwand langsam hinunterrutschen und blieb nachdenklich sitzen, bis er die schweren Stiefel seines Vaters hörte.
    »Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen«, sagte der Vater und schickte ihn in den Schatten. Er glaubte, Giovanni habe einen Sonnenstich, und befreite ihn für diesen Nachmittag vom Graben.
    Gespenst stimmt wohl, dachte Giovanni. Gesehen stimmt nicht, aber Gespenst stimmt. Ein Mäusegespenst. Ein stocksaurer Mäuserich mit einem bekloppten Namen, der mich triezt. Giovanni hieß übrigens damals noch nicht Giovanni, sondern Paul.
    »Wo ist Paul?« fragten Arno und
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