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Schalmeienklänge

Schalmeienklänge

Titel: Schalmeienklänge
Autoren: Nancy Kress
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und nur die wurden dir durch die Weißen Schalmeien geraubt. Die anderen Schichten ruhen noch unberührt und jetzt offen – für die, deren Psyche du bezwungen hast. Paß auf, Liebste. Paß auf.«
    Brant stand in dem dunklen Zimmer zu weit entfernt von mir, als daß ich sein Gesicht hätte beobachten können. Doch ich sah seine erhobene Handfläche gespenstisch im Kerzenschein, und ich glaubte, seinen Blick auf mir zu spüren. Nicht in meinem Bewußtsein, dort spürte ich gar nichts, nicht die widerliche Berührung vom Eindringen in fremdes Fleisch, nicht den Ausbruch der zeitlosen Musik des Geschichtenspielens und nicht die Freude der Weißen Schalmeien. Die Außenschichten meines Bewußtseins blieben, wie die Weißen Schalmeien sie zurückgelassen hatten: aller Geschichten beraubt.
    Aber in dem schummrigen Zimmer, das nur von einer Kerze erhellt wurde wie ein zwielichtiger Himmel von einem Stern, bildete sich zwischen Brants Handfläche und der meinen weißer Dunst.
    »Weiß«, hauchte Brant, und ich erkannte, daß, was er auch immer von dieser Kunst erfahren hatte, die Farbe des Nebels nicht inbegriffen war. Er kroch und zog zwischen unseren Händen dahin, wirkte bald wie Nebelfetzen, bald wie Irrlichter, die manchmal am südlichen Himmel auftauchten, dann wieder fest, als handelte es sich weder um Nebel noch im Licht, sondern um etwas Greifbares, das man berühren und festhalten konnte. Ich streckte die andere Hand aus. Meine Finger strichen durch den weißen Nebel.
    Ich flüsterte: »Was ist das, Brant?«
    Seine Stimme klang mühsam; diese Bewußtseinskunst strengte ihn mehr an als mich. Weil er und nicht ich derjenige war, der sie auslöste? Weil er und nicht ich derjenige gewesen war, der von den Schalmeien bezwungen worden war, so daß ich noch eine Art müheloser Überlegenheit wahrte? Vielleicht auch nur wegen seines verstümmelten Armes und des Schmerzes der körperlichen Verletzung. »Kannst du es nicht erraten?«
    Aber ich konnte nicht oder wollte nicht. Der dahinkriechende weiße Nebel erfüllte den Raum zwischen unseren Händen. Pinkfarbener Geschichtenspielernebel hätte Strudel aufgewiesen; dieser hier erstarrte plötzlich, war reglos wie der Tod, und ich hielt den Atem an und starrte hinein.
    Brant stieß mühsam hervor: »Geschichten, wie du und ich sie bei Mutter Arcoa spielen lernten, haben sich so niemals zugetragen. Es sind Lügen. Wahrheit, so wie ich sie deinem Bewußtsein entriß, als ich erfuhr, daß Jorry mein Sohn ist, beruht auf vergangenen Geschehnissen. Begierden, so wie Leonore damals mich zu sehen glaubte, wie ich die Weißen Schalmeien fand, zeigen, was einer sich wünscht, daß geschähe. Aber das hier sind weder Lügen, Wahrheiten noch Begierden. Weißt du, was du siehst, Fia?«
    Der erstarrte Nebel spaltete sich auf und brach wie eine Eisschicht auf einem Frühlingsbach. In dem winzigen Raum standen drei lebensgroße Figuren, deren Größe nach den Miniaturgestalten des Geschichtenspiels einfach erschreckend wirkte. Sie erfüllten den engen Raum, beanspruchten ihn, unterhielten sich wortlos miteinander und beachteten Brant und mich gar nicht.
    Aber es waren Brant und ich… und Jorry. Brant mit unerwartetem Bart und nutzlos an der Seite herabbaumelndem Arm; ich in blauem, ausgebeultem Umstandskleid; Jorry als junger Mann zwischen uns in Kriegsrüstung, der unter einem Helm mit zwei goldenen, lichthell strahlenden Federn lachte.
    Ich schrie: »Was geschehen wird!«, stürzte mich mit aller Kraft vom Bett, durch die Figuren hindurch direkt auf Brants Handfläche zu. Wir krachten beide zu Boden. »Nein!« schrie ich ihn an, schlug mit Fäusten nach ihm und kümmerte mich nicht darum, wohin ich traf und ob ich ihm weh tat. »Nein, nein, nein! Ich will es nicht wissen! Jetzt nicht, nein, niemals, niemals!«
    Brant schrie vor Schmerzen auf; das brachte mich wieder zu Verstand. Er war auf seinen Arm gefallen, und ich hatte ihn darauf geschlagen. Keuchend und aschfahl versuchte er aufzustehen; ich packte ihn um die Taille, und wir wankten gemeinsam zum Bett.
    Im Treppenhaus polterten Schritte – Jantro oder Pritar. Brant rief ihnen zu, sich nicht darum zu kümmern, und die wachsamen Schritte entfernten sich wieder, langsamer, als sie gekommen waren.
    »Dein Arm…«, sagte ich besorgt, aber er rollte aufs Bett und umfaßte dabei meine Taille mit dem anderen; sein Gesicht war blaß, aber er lächelte.
    »Niemals«, erklärte ich. »Niemals. Hör mir gut zu, Brant – ich werde das nie
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