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Schalmeienklänge

Schalmeienklänge

Titel: Schalmeienklänge
Autoren: Nancy Kress
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1
     
     
    Die Diener hatten Jorry und mich in ein Vorzimmer geführt, einen kleinen steinernen Raum mit farbenprächtigen Wandteppichen, wo wir bleiben sollten, bis das Abendessen im Großen Saal vorüber wäre. In der Zwischenzeit inspizierte ich die Wandteppiche, denn es gab nichts anderes, was man hätte betrachten können. Schlampige Webarbeit, prachtvolles importiertes Material und derbes Muster. Die Gestalt eines Kriegers – zumindest hielt ich ihn für einen Krieger, allerdings war er enthauptet, und was ich für einen Helm hielt, konnte ebensogut ein Kochkessel sein – wirkte so primitiv wie die Zeichnungen, die Jorry mit zugespitzten Stöcken in den Sand am Strand ritzte. Primitiv und farbenfroh. Die Wandteppiche hätten ein Symbol für ganz Veliano sein können.
    »Bist du nervös, Mutter?«
    »Nein. Ja. Sprich jetzt nicht mit mir, Jorry, ich werde gleich die Erste Phiole trinken.«
    Ich hörte, wie er hinter mich trat, dann schob sich seine kleine Hand in die meine. Dort verharrte sie nur einen Augenblick; er war ein zu aufmerksames und gehorsames Kind, um die Gefahr einzugehen, mich in meiner Trance der Ersten Phiole zu stören. Selbst der Druck seiner warmen Finger war eine Ablenkung, aber eine, die mir recht war.
    Hinter den Wandteppichen erscholl Lärm, plötzliches, lautstarkes Gelächter, gefolgt von den gegrölten Fetzen eines Liedes. Sie mögen nicht zu betrunken sein, flehte ich lautlos Niemand an – bitte, nicht zu betrunken. Bei meinen Phantasiebildern handelt es sich um zarte Schöpfungen, weit ab von den Trinkgelagen, Bärenhatzen und Akrobaten, die meiner Ansicht nach in einem so abgelegenen Bergreich wie diesem Veliano die üblichen Unterhaltungen darstellten. Wenn die einheimischen Adligen betrunken waren, wußten sie meine Kunststücke aus der Stadt vielleicht gar nicht zu schätzen. Wenn sie zu betrunken waren, sahen sie meine Kunststücke aus der Stadt vielleicht nicht einmal. Das war mir schon mehrfach widerfahren.
    Der Wandteppich wurde angehoben, ein Diener trat ein, ein mürrischer halbwüchsiger Bursche, der vor kurzem einen Hieb seitlich übers Gesicht bekommen haben mußte. Seine Wange und sein linkes Auge waren blau und purpurn. »Nun wird die Süßspeise abgetragen, Harfnerin Pia. Du batest, ich sollte dir Bescheid sagen.«
    Ich bin keine Harfnerin, aber ich ließ es dabei bewenden. Dieser brummelige Junge würde nicht begreifen, was ich bin, wenn ich es ihm sagte. Er blieb bei den Teppichen stehen, offensichtlich in der Hoffnung, als Entgelt für die Nachricht eine kleine Münze zu bekommen. Ich hatte keine, die ich ihm hätte geben können. Ich reckte mein Kinn hoch und starrte demonstrativ auf den Rand des Teppichs, wo die vierblättrige Levkoje der Vier Schutzgötter prangte. Nach einer Weile fluchte der Junge vor sich hin und verschwand.
    Doch meine ohnehin immer empfindliche Trance war durchbrochen worden. Ich würde von neuem beginnen müssen.
    Seufzend zog ich die Erste Phiole aus einer der in meine Bluse genähten, sicheren Geheimtaschen. Alle meine Flakons waren leicht, klein und aus billigem Metall, selbst während meiner seltenen Aufenthalte in den Silberstädten, wo ich mir Besseres hätte leisten können. Blech lockt keine Diebe an. Ich hob die Erste Phiole an die Lippen, durchbrach dann aber mein eigenes Schweigegebot vor einer Vorstellung, um mich neben meinen Sohn zu knien, bis mein Gesicht sich auf gleicher Höhe befand wie das seine. Weiches, braunes Haar fiel ihm über die Stirn in die Augen; ich strich es mit der Handfläche zurück.
    »Jorry. Hör zu. Du weißt, daß du hierbleiben mußt, bis meine Vorstellung vorüber ist und ich dich holen komme. Du kannst hinter dem Teppich versteckt zusehen, aber du darfst nicht in den Saal kommen.«
    »Ja, ja.« Er runzelte die Stirn und war der Anweisung überdrüssig, die er schon so viele Male zuvor in so vielen anderen Palästen gehört hatte. Aber nur wenige waren so prunkvoll und so abgelegen gewesen wie dieser hier. Und der Sommer würde nicht ewig dauern.
    »Jorry, würdest du gerne hier in Veliano bleiben?«
    Nun hatte ich seine Aufmerksamkeit geweckt. »Du meinst, für immer?«
    »Zumindest den Winter über. Wenn dem König hier meine Geschichten gefallen, könnte ich um eine Stellung im Haus bitten. Sie haben hier keinen Zeremonienmeister.«
    Wahrscheinlich hatten sie hier noch nicht einmal von etwas Derartigem gehört. Ich würde ein Amt erbitten, das bislang noch gar nicht eingerichtet war. Aber das
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