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Einstein, Orpheus und andere

Einstein, Orpheus und andere

Titel: Einstein, Orpheus und andere
Autoren: Samuel R. Delany
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1.
     
    Es dunkelt, (tinct, tint) all das unsere spaßanimalische Welt.
    James Joyce / Finnegans Wake
     
    Ich sage jedoch nicht, daß jegliche Verblendung oder jeglicher Fieberwahn des Geistes Irrsinn genannt werden solle.
    Erasmus von Rotterdam / Lob der Torheit
     
    In meiner Machete läuft ein hohler, mit Löchern durchsetzter Zylinder vom Heft bis zur Spitze. Wenn ich über das Mundstück im Griff blase, mache ich mit der Klinge Musik. Wenn alle Löcher zugedeckt sind, klingt es traurig, so wild, wie man es nur denken kann, und doch sanft dabei. Wenn alle Löcher offen sind, dann pfeift der Ton durch die Luft nach allen Seiten, und das Auge sieht Flecken von Sonne auf Wasser, zerdrücktes Metall. Es sind zwanzig Löcher. Und seit ich Musik spiele, haben sie mir alle möglichen Narrennamen gegeben – öfter als sie mich Lobey genannt haben, was mein Name ist.
    Wie ich aussehe?
    Häßlich, und ich grinse meistens. Ziemlich viel Nase und graue Augen und ein breiter Mund sind in ein kleines braunes Gesicht gesteckt, das zu einem Fuchs passen würde. Das und wirre gesponnene Bronze statt Haare drum herum. Einen Großteil davon hacke ich alle zwei Monate oder so mit meiner Machete ab. Wächst schnell nach. Was komisch ist, weil ich dreiundzwanzig bin, und noch immer kein Bart. Ich sehe aus wie ein Kegel: Schenkel, Waden und Füße wie ein Mann (oder Gorilla?), der zweimal so groß ist wie ich (ich bin etwa einsfünfundsiebzig), und entsprechende Hüften. Im Jahr meiner Geburt gab es eine Überzahl an Hermaphroditen, und die Ärzte dachten, ich sei einer. Irgendwie zweifle ich daran.
    Wie schon gesagt: häßlich. Die Zehen an meinen Füßen sind fast so lang wie meine Finger, und die großen Zehen können halb in Greifstellung gebracht werden. Aber hackt nicht drauf ’rum; einmal habe ich Little Jons Leben gerettet.
    Wir kletterten den Beryl Face hinauf, über die glatten glasigen Felsen, als Little Jon den Halt verlor und nur noch an einer Hand hing. Ich mußte mich mit beiden Händen festhalten, aber ich streckte meinen Fuß hinunter, packte ihn am Handgelenk und zog ihn wieder herauf, bis er wieder Halt für seine Füße fand.
    In diesem Augenblick verschränkt Lo Hawk seine Arme über dem Lederhemd, nickt weise, so daß der Bart an seinem faltigen Hals auf und ab wackelt, und sagt: »Und was hattet ihr zwei Lo-Männer denn überhaupt auf dem Beryl Face zu suchen? Es ist gefährlich, und wir vermeiden Gefahren, wißt ihr das nicht? Die Geburtenziffer sinkt, sinkt immer mehr. Wir können es uns nicht leisten, unsere produktive fortpflanzungsfähige Jugend durch Torheiten zu verlieren.« Das stimmt natürlich nicht, die Geburtenrate sinkt nicht. Das ist nur das Gerede von Lo Hawk. Was er meint, ist, daß die Zahl der total Normalen sinkt. Aber es gibt massenhaft Geburten. Lo Hawk gehört zu der Generation, in der die Zahl der Non-Funktionalen, der Idioten, Mongoloiden und Kretins, weit über fünfzig Prozent betrug. (Wir hatten uns noch nicht euren Vorstellungen angepaßt. Na ja.) Aber jetzt gibt es spürbar mehr Funktionale als Non-Funktionale, also braucht man sich keine großen Sorgen zu machen.
    Wie dem auch sei, ich kaue nicht nur schamlos an meinen Fingernägeln, ich kaue auch an meinen Zehennägeln.
    Und dabei erinnere ich mich, wie ich am Eingang zur Quellenhöhle sitze, wo der Bach aus der Dunkelheit kommt und eine Sichel von Licht in die Bäume schneidet, und eine Blutspinne, so dick wie meine Faust, sonnt sich auf dem Felsen neben mir, ihr Bauch pulsiert an den Seiten hervor, Blätter streifen über uns aneinander. Dann kommt La Carol mit einer Fruchtschlinge über der Schulter vorbei, ihr Kind unterm Arm (wir haben uns einmal gestritten, ob es von mir ist oder nicht. Am einen Tag hatte es meine Augen, meine Nase, meine Ohren. Am nächsten – »Kannst du nicht sehen, daß es Lo Easys Junge ist? Schau doch, wie stark er ist!« Und dann verliebten wir uns beide in jemand anderen, und jetzt sind wir wieder Freunde), und sie zieht ein Gesicht und sagt: »Lo Lobey, was machst du denn bloß?«
    »Ich beiße meine Zehennägel. Sieht es denn nach was anderm aus?«
    »Also wirklich!« Und sie schüttelt den Kopf und geht in den Wald Richtung Dorf.
    Aber jetzt sitze ich lieber auf dem flachen Felsen, schlafe, denke, kaue oder schleife meine Machete. Es ist mein Privileg, hat mir La Dire gesagt.
    Es ist noch gar nicht lange her, da haben Lo Little Jon, Lo Easy und Lo ich zusammen Ziegen gehütet (das nämlich
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