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Einstein, Orpheus und andere

Einstein, Orpheus und andere

Titel: Einstein, Orpheus und andere
Autoren: Samuel R. Delany
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erst acht), dämmerte es mir zum erstenmal, warum sie nicht sprach: sie hob eins der Steinchen auf und schleuderte es boshaft dem Kerl an den Kopf, der die Bemerkung über »Le« gemacht hatte. Sogar mit acht war sie reizbar. Sie verfehlte den Mann, ich allein hab es gesehen. Aber ich sah auch die Grimasse, die ihr Gesicht verzerrte, die Anstrengung in ihren Schultern, die Art, wie sich ihre Zehen einrollten – sie saß mit untergeschlagenen Beinen –, als sie den Stein warf. Beide Fäuste lagen verknotet in ihrem Schoß. Weißt du, sie hat es nicht mit den Händen oder den Füßen gemacht. Der Stein hob sich einfach aus dem Dreck, schoß durch die Luft, verfehlte sein Ziel und klatschte in niedriges Gebüsch. Aber ich habe es gesehen: Sie hat geworfen.

 
2.
     
    Eine Woche lang habe ich mich jede Nacht lange bei den wilden Fahnen am Ufer aufgehalten, Palazzi dichtgedrängt zur Linken, sprödes Licht knistert über dem Hafen im warmen Herbst. EOUA nimmt seltsame Wendungen. Heute abend, als ich das große Trapezoid der Piazza wieder betrat, hüllte Nebel die Spitzen der roten Fahnenmasten ein. Ich setzte mich auf den Sockel des Mastes, der dem Turm am nächsten war, und machte mir Notizen über Lobeys Verlangen. Später ließ ich das verfaulende Gold und Indigo der Basilika zurück und wanderte bis lange nach Mitternacht durch die Hintergassen der Innenstadt. Einmal blieb ich stehen und schaute von einer Brücke zu, wie ein kleiner Kanal zwischen den engen Wänden unter den Nachtlaternen und Wäscheleinen dahintrieb. Ein plötzliches Kreischen ließ mich herumfahren: ein halbes Dutzend jammernder Katzen wirbelte um meine Füße und jagte dann einer braunen Ratte nach. Kältewellen punktierten die Nerven mein Rückgrat hinunter. Ich schaute wieder aufs Wasser: sechs Blumen – Rosen – kamen unter der Brücke hervorgetrieben, krochen über das Öl. Ich schaute ihnen nach, bis ein Motorboot, das auf einem der größeren Kanäle in der Nähe dahintuckerte, klatschendes Wasser gegen die Fundamente trieb. Ich ging über die kleinen Brücken zum Canale Grande und erwischte das Vaporetto zurück zur Ferrovia. Wind kam auf, als wir unter dem schwarzen Holzbogen des Ponte dell’Accademia hindurchglitten; ich versuchte die Blumen, die bösartigen Tiere mit Lobeys Abenteuer in Einklang zu bringen – alles paßt, aber bisher weiß ich noch nicht so recht, wie. Orion ritt auf dem Wasser. Lichter vom Ufer zuckten im Kanal, als wir unter den tropfenden Steinen der Rialto-Brücke durchfuhren.
    Tagebuch des Autors / Venedig, Oktober 1965
     
    In wenigen Zeilen werde ich erweisen, wie Maldoror in seinen ersten Jahren tugendhaft war, tugendhaft und glücklich. Später wurde er gewahr, daß er böse geboren war. Seltsame Fatalität!
    Isidor Ducasse (»Comte de Lautréamont«) / Les Chants de Maldoror
     
    Alles ein Vorwort dafür, warum Easy, Little Jon und ich keine Ziegen mehr weiden.
    Friza begann hinter uns herzutrotten, dunkel und vieldeutig, sie rannte und hüpfte mit Little Jon in einem Doppeltanz zu seinem Lied und meiner Musik, sie rang spielerisch mit Easy und wanderte mit mir die dornige Wiese hinauf und hielt meine Hand dabei – wer hat jemals davon gehört, daß man jemanden mit La oder Lo anspricht, mit dem man Ziegen hütet oder mit dem man lacht oder mit dem man Liebe macht. Und all das habe ich mit Friza gemacht. Sie legte sich oft auf einen Felsblock und starrte mich an, und die Blätter und ihr Gesicht zitterten. Oder sie kam zwischen den Steinen auf mich zugerannt; und zwischen ihrem graziösen Gang und dem Schatten auf den Felsen war alles gespannte und wirkliche Bewegtheit. Und sie löste sich, wenn sie lachend in meinen Armen war – Lachen, das war der einzige Laut, den sie von sich gab, weil sie das Gefühl im Mund gern hatte.
    Sie brachte mir schöne Dinge. Und sie hielt das Gefährliche fern. Ich glaube, sie machte das auf die gleiche Weise, wie sie die Steine warf. Eines Tages bemerkte ich, daß Häßliches und Schädliches einfach nicht mehr geschah; keine Löwen, keine Geierfledermäuse. Die Ziegen blieben beisammen, die Kinder verirrten sich nicht mehr und gingen nicht mehr zu den Klippen.
    »Little Jon, du brauchst heute morgen nicht mit hinaufzukommen.«
    »Gut, Lobey, wenn du meinst, daß …«
    »Mach schon und bleib daheim.«
    So zogen Easy, Friza und ich mit den Ziegen hinaus.
    Die schönen Dinge waren etwa der Flug Albinofalken, die auf die Weide kamen. Oder die Waldmurmeltiermutter, die uns
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