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Einstein, Orpheus und andere

Einstein, Orpheus und andere

Titel: Einstein, Orpheus und andere
Autoren: Samuel R. Delany
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Mythologie, Lobey. Oder besser, hör du mir zu. Wir haben viel Zeit gehabt, das logische Prinzip dieser Welt zu begreifen. Das irrationale stellt ein genauso großes Problem dar. Erinnerst du dich an die Legende von den Beatles? Du erinnerst dich, der Beatle Ringo verließ seine Liebe, obwohl sie ihn zärtlich liebte. Er war der einzige Beatle, der nicht sang, so sagen die frühesten Varianten der Legende. In der Nacht nach einem harten Tag wurden er und die anderen Beatles von schreienden, rasenden Mädchen in Stücke gerissen, und dann kehrten er und die anderen Beatles zurück, endlich vereint mit dem großen Rock und dem großen Roll.« Ich legte meinen Kopf in La Dires Schoß. Sie erzählte weiter. »Also, dieser Mythos ist eine Version einer viel älteren Geschichte, die nicht so bekannt ist. Aus der Zeit der älteren Geschichte gibt es keine Überlieferung auf 45ern und 33ern. Es gibt nur ein paar geschriebene Versionen, und Lesen wird für die jungen Leute ja immer rascher uninteressant. In der älteren Geschichte hieß Ringo Orpheus. Auch er wurde von schreienden, rasenden Mädchen zerrissen. Aber die Einzelheiten sind anders. Er verlor seine Liebe – in dieser Version hieß sie Eurydike –, und sie ging direkt zum großen Rock und zum großen Roll, und dorthin mußte auch Orpheus gehen, um sie zurückzugewinnen. Er ging singend dorthin, in dieser Version nämlich war Orpheus der größte Sänger, nicht der Schweiger. In Mythen verwandeln sich die Dinge immer in ihr Gegenteil, wenn eine Version die andere ablöst.«
    Ich sagte: »Wie konnte er denn in den großen Rock und den großen Roll hineinkommen? Das ist doch das ganze Leben und der ganze Tod.«
    »Er tat es.«
    »Hat er sie zurückgebracht?«
    »Nein.«
    Ich schaute von La Dires altem Gesicht weg und drehte meinen Kopf zu den Bäumen hin. »Dann hat er gelogen. Er ist gar nicht wirklich gegangen. Vielleicht ist er nur ein bißchen in die Wälder gegangen und hat sich nur so eine Geschichte ausgedacht, als er zurückkam.«
    »Vielleicht«, sagte La Dire.
    Ich blickte wieder hoch. »Er wollte sie zurückhaben«, sagte ich. »Ich weiß, daß er sie zurückhaben wollte. Aber wenn er irgendwo hingegangen ist, wo auch nur die geringste Chance bestand, sie zurückzuholen, dann wäre er nicht wiedergekommen ohne sie. Und deshalb weiß ich, daß er gelogen haben muß. Darüber, daß er zum großen Rock und zum großen Roll gegangen ist, meine ich.«
    »Alles Leben ist Rhythmus«, sagte sie, als ich mich aufrichtete. »Aller Tod ist unterbrochener Rhythmus, eine Synkopierung, ehe das Leben wieder beginnt.« Sie hob meine Machete auf. »Spiel was.« Sie hielt mir den Griff entgegen. »Mach Musik.«
    Ich führte die Klinge an den Mund, rollte mich auf den Rücken, bog mich um die helle gefährliche lange Schneide und begann Töne zu improvisieren. Ich wollte es nicht, aber es bildete sich in meiner gewölbten Zunge, und der Atem übertrug es auf das Messer.
    Tief; zuerst langsam; ich schloß die Augen, spürte jede Note in dem Viereck von Schulterblättern und Gesäß, die sich gegen den Felsen preßten. Die Noten kamen nur im Rhythmus meines Atems, und von tiefer darunter die raschere Bewegung meiner Finger- und Zehenmuskeln, die sich im schnelleren, dichteren Tanz der Herzschläge verkrampften. Bebend begann die Trauerhymne zu klingen.
    »Lobey, als du ein kleiner Junge warst, hast du oft mit den Füßen auf die Felsen gestampft, einen Rhythmus, einen Tanz, eine Trommel gemacht. Trommle, Lobey!«
    Ich ließ die Melodie schneller werden, dann jagte ich sie eine Oktave hinauf, damit ich mit ihr fertig werden konnte. Das heißt nur mit den Fingern.
    »Trommle, Lobey!«
    Ich sprang auf die Füße und begann meine Sohlen auf den Stein zu schlagen.
    »Trommle!«
    Ich öffnete die Augen lange genug, um zu sehen, wie die Blutspinnen davonhuschten. Die Musik lachte. Stampf und Stampf, Triller und Pfeifen, und La Dire lachte mit mir, spielen, krumm gebeugt, während Schweiß auf meinem Nacken zitterte, warf den Kopf hoch, und es tröpfelte den Rücken hinunter, und ich mit unbeweglichem Oberkörper warf die Hüften, schlug synkopische Rhythmen mit Zehen und Hacken, die Klinge nach oben, um in die Sonne zu stechen, und neuer Schweiß tröpfelte hinter meinen Ohren, rollte in die Mulden meines verdrehten Halses.
    »Trommle, mein Lo Ringo; spiel, mein Lo Orpheus«, schrie La Dire. »O Lobey!« Sie klatschte und schlug die Hände zusammen.
    Und dann, als die einzigen Laute
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