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Schalmeienklänge

Schalmeienklänge

Titel: Schalmeienklänge
Autoren: Nancy Kress
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geschwärzt.
    Auf dem Tisch hatte die Alte dem Burschen gerade einen Zauberapfel gereicht, und der stand da und betrachtete ihn. Er streckte ihn zum Rand des Tisches, als böte er ihn dem Publikum dar, und man hätte eine Nadel fallen hören können, so fasziniert waren die Zuschauer. Ich lächelte vor mich hin. Obgleich ich zuerst enttäuscht gewesen war, daß es sich bei dem bevorstehenden Märchen nur um die Alte und den Burschen handelte, so gelangte ich nun zu der Auffassung, daß es eine glückliche Eingebung war. Der Erzählfaden war so simpel, daß selbst ein Publikum, das mit der Kunst des Geschichtenspielens nicht vertraut war, ihn gut verstehen konnte. Darüber hinaus enthielt es als Bösewicht eine alte Frau, und alte Frauen sind immer ein sicheres Objekt für falsche Anschuldigungen. Eine Geschichte mit einem Königssohn oder einer Königin als Bösewicht wäre möglicherweise riskanter gewesen; ich kannte die politischen Gepflogenheiten an diesem Hofe nicht, noch wußte ich, auf welche Intrigen ich möglicherweise unbewußt angespielt hätte.
    Das Märchen zwischen meinen Handflächen näherte sich dem Ende, als etwas Eigentümliches begann.
    In der Nähe meiner linken Hand bildete sich ein dritter Nebel, kreiste und verdichtete sich. Überrascht beobachtete ich den Vorgang; im Märchen von der Alten und dem Burschen kam keine dritte Person vor. Das Publikum, das von alledem nichts wußte, schaute erwartungsvoll zu.
    Plötzlich kribbelte es in meinen Handflächen. Ich fühlte, wie mein Gesicht wie unter Hitze oder großer Anstrengung errötete, obgleich ich keine Anspannung empfand. Der dritte Nebel nahm Gestalt an: König Rofdal in Miniatur, aber vollständig und genauso gekleidet, wie er vor mir auf der Bank saß. Die Figur trat in die Mitte des Tisches. Auf der Stelle zog der Bursche ein Schwert – ein Schwert, das er in meinem Märchen nicht einmal besaß – und griff den König an. Im Saal brach Chaos aus.
    Menschen schrien, eine Bank fiel krachend zu Boden, bewaffnete Männer sprangen nach vorn. Grobe Hände ergriffen mich von hinten, und plötzlich fühlte ich, wie mir eine Dolchspitze an die Kehle gedrückt wurde. Als ich mich wehrte, zerrte man mich nach hinten, meine Handflächen lösten sich vom Tisch und die Figuren, die sich immer noch zwischen ihnen befanden, stiegen in die Luft, ruderten wild herum und lösten sich schließlich wieder in pinkfarbenen Nebel auf. Das Gesicht der Alten wurde zu einem verschwommenen Strudel, die Beine zerrannen zu nichts im Dunst, Rofdal verblaßte auf so groteske Weise, als wäre er von innen heraus explodiert, und die Damen begannen beim Anblick des Gesichts ihres Königs, das sich dehnte und zu Strudeln über ihren Köpfen auflöste, zu weinen.
    Irgend jemand drehte mir die Arme auf den Rücken und hielt sie dort fest. Die Spitze des Dolches bohrte sich in meine Kehle. Ich versuchte zu schreien, konnte aber nicht.
    Plötzlich schoß eine kompakte Masse auf den Mann zu, der mich gefangenhielt und traf ihn an einem der Arme, die mich umklammert hatten. Jorry war mit langem Anlauf aus dem Vorzimmer gerannt und heulte wie ein Gewittersturm.
    »Laß meine Mutter los! Laß meine Mutter los!«
    Der Soldat trat nach ihm. Jorrys fester, kleiner Körper knallte auf den Boden; in diesem Augenblick ließ mein Entsetzen nach, und ich begann zu treten, mich zu winden und zu schreien, bekam eine Hand frei, versuchte, nach den Augen des Soldaten zu stechen, mit dem Knie in seine Lenden zu treten, alles, was mir einfiel, um mich loszureißen und dorthin zu laufen, wo Jorry noch immer am Steinboden lag. Wäre ich im Besitz einer Waffe gewesen, hätte ich getötet; wäre ich wirklich eine Zauberin gewesen, hätte ich dem Mann tödliche Schmerzen zugefügt.
    Ich war keines von beidem, und die groben Arme hielten mich fest, bis eine Stimme durch das Getöse schallte und alles übertönte.
    »Nun mal alles ruhig!« brüllte Rofdal.
    Und sofort war alles ruhig. Auf der Stelle. Schreie und Rufe verhallten, die Arme, die mich hielten, bebten und gaben dann nach – just so weit, daß ich mich freitreten und zu Jorry laufen konnte.
    Er kam schon wieder wankend auf die Knie hoch und weinte. Sein Schluchzen war der einzige Laut im Raum. Ich zog ihn an mich, und er hängte sich an meinen Hals, wie das Kind, das er war und nicht der Krieger, den er um meinetwillen hatte spielen wollen. Der Stiefel des Wachhabenden hatte ihn am Schenkel getroffen, und ich sah, daß er zwar nichts
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