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Schalmeienklänge

Schalmeienklänge

Titel: Schalmeienklänge
Autoren: Nancy Kress
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einen Schauer über den Nacken jagte, »ich frage dich noch einmal. Ist das mein Kind?«
    Jorry schaute mit krausgezogener Stirn von Brant zu mir.
    »Nein«, antwortete ich.
    Brant erwiderte meinen Blick lange Zeit. Dann zog er eine Flasche aus seiner Jacke und trank sie leer.
    Ich konnte nur hilflos zusehen. Brant schloß die Augen, blieb eine lange Minute reglos stehen und spreizte dann die Hände über dem farbenprächtigen Lacktisch.
    Der pinkfarbene Dunst kam auf, begann zu strudeln und verdichtete sich. Voller Entsetzen wurde mir klar, was er vorhatte, aber ich wußte nicht, wie gut er dazu imstande war. Wie lange nach meiner Flucht von Mutter Arcoa war Brant noch dortgeblieben und beherrschte die Künste von Seele und Geist, die zu erlernen ich gerade erst begonnen hatte?
    Ich wollte zur Tür laufen; Brant stellte sich dazwischen. Jorry starrte mit vor kindlicher Neugier offenem Mund auf das, was auf dem Tisch geschah, und seine Hand ruhte warm in der meinen.
    Aus dem Nebel zwischen Brants Handflächen erstanden zwei Figuren: er und ich zehn Jahre jünger, als junger Mann und halbwüchsiges Mädchen. Die winzige Fia trug die schlechtsitzende Kittelbluse der Lehrlinge, wie sie Pflicht war im ärmlichen Geschichtenspielerhaus von Mutter Arcoa; der junge Brant trug sein eigenes, unbeschreibliches handgesponnenes Zeug, in welchem er eines Tages vor der Tür gestanden und Unterweisung verlangt hatte, ohne Erklärungen zu geben, aber mit dem Gold zur Bezahlung in der Faust. Beide Figuren wirkten fest und so real, daß mir der Atem stockte. Nur vollendete Geschichtenspieler vermochten willentlich zu bestimmen, welche Gestalten sich aus ihrem Kopf bildeten und sie so stabil zu schaffen. Aber nicht das war es, was mir einen erstickten Schrei entriß. Bei Mutter Arcoa waren Gerüchte umgegangen, daß manche Meister mehr vermochten, als ihrem eigenen Denken Geschichten zu entlocken und zu lenken. Früher einmal, so flüsterten die Schüler einander in der Dunkelheit in ihren Betten oder in der raschelnden Abgeschiedenheit des nächtlichen Waldes zu, früher einmal konnten Geschichtenspieler dem Bewußtsein ihrer Zuschauer Erzählungen entlocken…
    Ich hatte es nicht geglaubt. Auch jetzt glaubte ich es noch nicht. Die winzige Fia und der kleine Brant auf dem Tisch umarmten sich, legten sich hin und begannen, sich zu liebkosen. Sie zog ihm das Hemd aus, küßte seine Brust. Er fuhr mit der Hand über die Wölbung ihres Schenkels und schloß sie zärtlich um die Schwellung ihrer jungen, kaum gesprießten Brüste.
    Eine langsame Hitzewoge durchzuckte mich.
    Die winzigen Figuren paarten sich. Ich konnte den Blick nicht abwenden. Es war unerträglich, es war widerlich, dieses Wiederaufleben erinnerter Zärtlichkeiten – und wie genau erinnerter! – mit Brant hinter dem Tisch und Jorry neben mir. Ich spürte Brants Blick auf mir und wußte, wenn ich hochschaute, sähe ich wieder diese quälende Unstimmigkeit: die Grausamkeit des Mundes und den Schmerz in den Augen. Ich schaute nicht hoch. Ich brachte es nicht fertig.
    Die Jungengestalt sprach zu dem Mädchen, redete aufgeregt auf sie ein und hatte die Hände um seine Schultern gelegt. Natürlich lieferte die Pantomime auf dem Tisch keinen Ton, aber ich wußte, was er sagte. Er flehte das Mädchen an, und es schüttelte schweigend den Kopf. Das ging eine ganze Weile so weiter, es ging ewig so weiter. Ich fühlte, wie Jorry neben mir unruhig wurde. Die Gestalt von Brant schlief erschöpft auf dem Tisch ein. Die Gestalt der Fia nahm aus einem geschnitzten Kästchen mit einer Geheimschublade Gold, mehr Gold, als sie jemals zuvor in ihrem elenden Waisendasein gesehen hatte, und ließ ihn schlafend zurück. Ihre Gestalt verschwand.
    Der Junge erwachte. Er sah sich nach ihr um, suchte sie. Er war verzweifelt und dann wie von Sinnen. Er riß sich an den Haaren, schickte bewaffnete Männer aus und gab für die Suche nach ihr viel Geld aus, hundertmal mehr Gold, als sie gestohlen hatte. Einmal richtete er seinen Dolch gegen sich und warf ihn dann unter Tränen von sich.
    Mir stiegen selbst die Tränen in die Augen. Das hatte ich nicht gewußt.
    Plötzlich erschien wieder die Gestalt Fias. Sie trug Brants Schuh bei sich, eine alberne Jugendtorheit, das Rührendste, zu dem ich mich jemals habe hinreißen lassen. Hinter dem albernen Schuh war deutlich die Wölbung ihres schwangeren Leibes sichtbar. Sie drückte den Schuh an ihre Wange und weinte.
    Der Mann Brant klatschte heftig in die
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