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Schalmeienklänge

Schalmeienklänge

Titel: Schalmeienklänge
Autoren: Nancy Kress
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Hände. Alles, die ganze stumme Show, verschwand.
    Ich stand wie versteinert. Was Brant getan hatte, war einfach nicht möglich. Er hatte den Rest der Geschichte aus meinem Bewußtsein gepreßt, hatte mich seiner so leichthin beraubt, wie ich ihn einst beraubt hatte. Nun wußte er, daß Jorry sein Sohn war. Ich sah ihm ins Gesicht, und mir war klar, daß ich bis zu diesem Augenblick niemals zuvor in meinem Leben, das ich mit dem Erfinden unverfrorener Lügen, die Geschichten sind, zubrachte, so deutlich die sengende Hitze unverhüllter Wahrheit erlebt hatte.
    »Warum?« fragte Brant, und seine Stimme bohrte sich wie eine Klinge in mich.
    »Du nanntest mir deinen Namen«, antwortete ich: »Brant von Erdulin – die Familie eines Adligen! Du warst ein Narr, ich war es nicht. Du sagtest, du wolltest mich mit zu dir nach Hause nehmen…« Verflucht sei er, wie hatte das geschehen können, wo ich zehn Jahre umhergezogen war und niemals auch nur in die Nähe von Erdulin kam, »…und… und mich heiraten. Heiraten! Ich war schon schwanger, Brant, und ich sah vor mir, wie es wäre, selbst wenn du es getan hättest, du, der du nur den Armen bei Mutter Arcoa spieltest und aus Abenteuerlust aus den Silberstädten weggelaufen warst. Du konntest dir nicht vorstellen, wie es sein würde – ich dagegen sehr gut. Nicht ein Junge und ein Mädchen, die die Liebenden spielten, sondern der Erbe eines Adelshauses und ein Straßenfindelkind mit einer ungewöhnlichen Begabung fürs Geschichtenspielen, die auf einmal behauptete, von ihm schwanger zu sein. Hätte dein Vater es zugelassen? Wäre ich an deinem Tisch gesessen und hätte deinen Sohn gestillt? Oder hätte man das Baby einer Amme anvertraut und zurückgehalten, bis deine anderen Söhne geboren wären anstelle dieses Bastards? Und mich hätte man in die Küche geschickt, während du anderweitig geheiratet hättest, bis ich nicht mehr nachts in dein Bett gekrochen wäre und gehofft hätte, unterwegs in den bewachten Korridoren doch noch einen Blick auf mein schlafendes Kind werfen zu können?«
    Jorry wimmerte. Er verstand nicht alles, was ich sagte, doch er hatte mich niemals zuvor in so leidenschaftlicher Furcht sprechen hören. Ich legte meinen Arm um seine Schultern und zog ihn an mich. Brant beobachtete es schweigend mit ungerührtem Blick.
    »Du glaubtest – oder gabst vor zu glauben –, daß der Unterschied unserer Stände bedeutungslos wäre, und daß ein Junge frei entscheiden könnte, wie sein Leben ablaufen würde. Ich wußte es besser, Brant. Vergiß nicht, ich war ein Kind von der Straße. Ich hatte es immer besser gewußt. Und Söhne sind das Eigentum ihrer Väter und der Familien ihrer Väter. Durch deine Selbsttäuschungen wäre mir mein Baby verlorengegangen.«
    »Anstatt das Risiko einzugehen, daß meine Selbsttäuschungen – oder mein Wankelmut – dich um ihn brachten, hast du alle Risiken ausgeräumt und ihn mir weggenommen. Und dich selbst ebenfalls.«
    »Ja«, gab ich zu und wußte, daß ich nicht die ganze Geschichte erzählt hatte. Aber wie sollte man die ganzen Jugendtorheiten zurückrufen, den empfindlichen Stolz, die schreckliche Entschlossenheit, sein ganzes Leben nach einer unbedachten Tat zu verschleudern und das Ganze dann noch für eine Art von Tugend zu halten? Ich kann mich kaum noch an die heftigen Impulse der Jugend erinnern; erklären kann ich sie schon gar nicht.
    Jorry drückte sich an mich und reckte mir sein kleines Gesicht entgegen. Ich fühlte seine Furcht. »Ist das… ist dieser Mann mein Vater?«
    »Nein«, antwortete Brant so rasch und hart, daß Jorry zurückzuckte. »Ich bin nicht dein Vater. Man gestattete es mir nicht.«
    So ruhig, wie ich konnte, erklärte ich: »Wir werden nun gehen, Brant. Noch in dieser Stunde.«
    »Ihr werdet überhaupt nicht gehen.«
    Ich starrte ihn an, dann riß ich mich von Jorry los und stürzte mich auf Brants Augen. Ich bin keine Kämpferin und nicht kräftig. Aber blinde Panik hatte mich erfaßt. Ich hatte seinen Worten etwas Unumstößliches entnommen, das ich ganz und gar nicht deuten konnte, und ich spreizte alle Finger, um ihm die Augen auszukratzen, wie ich das bei den Ringkämpfern auf Märkten gesehen hatte, weil mir das als erstes in den Sinn kam. Er würde uns nicht gehen lassen, er würde Jorry behalten, und alles in mir schrie nein!
    Brant packte meine Handgelenke und hielt mich ohne alle Mühe. Ich trat nach ihm und wand mich und schrie wie von Sinnen: »Lauf, Jorry! Lauf weg!
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