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Schalmeienklänge

Schalmeienklänge

Titel: Schalmeienklänge
Autoren: Nancy Kress
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Rhythmus von Musik verging. Wenn ich auch täglich fühlte, daß ich den Sohn verlor, den wiederzufinden ich so sehr gekämpft hatte, so war ich doch fair genug einzusehen, daß ich ihn ohnehin irgendwann an die Zeit verloren hätte. Aber eben nicht auf diese Weise, nicht so!
    Und in der Zwischenzeit saß ich in der Falle der anderen unvollendeten Geschichte, in der die Zeit selbst angehalten worden war. Die Geschichte, die im Vorraum des Schlosses von Veliano begonnen hatte, blieb immer noch unvollendet, und solange sie nicht zu Ende war, war auch ich nicht vollständig. Ich beobachtete seinen Unterricht im Schwertkampf und in Sprachen, die ich nicht verstand. Ich picknickte im Sonnenschein. Ich saß an Jorrys seidenverhangenem Bett, als er schlief, und betrachtete die Schatten seiner langen Wimpern auf den gebräunten Wangen, und die ganze Zeit über war ich unvollständig, aus der Zeit herausgerissen und in eine Geschichte geschleudert, die vor ihrem Abschluß bebend zum Halten gekommen war und mich in erstarrtem Nebel gefangenhielt. Es war erschreckend.
    Als Mädchen hatte ich mich meinen Ängsten durch Flucht entzogen. In Veliano hatte ich gelernt, Ängsten mit meiner eigenen Willenskraft zu begegnen. Aber daß es menschliche Geschichten gab, mit denen man weder durch Flucht noch durch Willenskraft fertig werden konnte – das war nun um so erschreckender. Ich hatte mir diese Geschichte nicht ausgesucht. Aber Brant und ich hatten sie gemeinsam begonnen, und gemeinsam mußten wir sie zu Ende führen, weil ich bis zu jenem Zeitpunkt von allem anderen, sogar von meinem Sohn getrennt und in mein eigenes Denken eingepfercht blieb. Nur diese eine Geschichte reizte mich, nur diese eine Geschichte war dringend, nur diese eine Geschichte rührte mich mit dem Hauch des Lebens.
    Ich war behext.
    Im sonnigen Dunst über den gelben Hügeln glaubte ich Leonore lächeln zu sehen. Und Brant kam immer noch nicht.
     
    *
     
    »Schau, Mutter«, rief Jorry. »Schau zu!«
    Ich war vom Brunnen um die Ecke des Gehöfts gekommen. Ich brachte Tiennen einen Eimer Wasser, die entsetzt sein würde, daß ich kein Küchenmädchen geschickt hatte. Es wurde allmählich kalt. Aber trotz der kühlen Luft liefen Jorry und Jantro mit nacktem Oberkörper herum. Jantros breite, glatte, haarlose Brust wies eine lange alte Narbe und zwei oder drei frische leichte Prellungen auf, als wäre er kürzlich gestürzt. Der kalte Himmel hinter ihm war vom Herbstlicht blaßgelb getönt.
    »Jetzt paß auf«, sagte Jorry.
    Er stand vor Jantro, dem er nicht ganz bis zur Schulter reichte, und hieb mit der Faust nach oben gegen Jantros Hals. Jantro unternahm keinen Versuch, den Schlag abzuwehren; er zuckte nicht einmal zusammen. Aber Jorrys Faust traf unter der Haut das Schlüsselbein; ich hörte es.
    »Nein«, korrigierte ihn Jantro. »Das ist falsch. So kannst du Knochen brechen! Hier, zwei Finger drüber, bewirkst du einen Gleichgewichtsverlust, aber keine Schmerzen. Du mußt genau hierhin schlagen, und du mußt deine Knöchel so drehen und deinen Daumen halten, wie ich es dir gezeigt habe.«
    »So?«
    »Nein, so! Winkle den Finger stärker an. So ist es gut. Jetzt schlag noch mal!«
    »Nein!«
    Beide drehten sich um und schauten mich an. Ich ließ den Wassereimer fallen, ohne mich darum zu kümmern, wo er landete, und überquerte den Hof. Meine Beine zitterten.
    »Nein. Das wirst du ihm nicht beibringen. Das nicht.«
    Jantro schwieg, sein Gesicht blieb reglos. Aber Jorry reckte das Kinn, wie ich es noch nie bei ihm gesehen hatte.
    »Das ist Jal-un, Mutter. Eine… Kampftechnik.«
    »Ich weiß, was das ist.«
    »Ich muß doch lernen, wie es geht.«
    »Du mußt eben nicht lernen, wie es geht. Und du wirst es auch nicht lernen.«
    Er schaute mich ruhig und mit seinem kleinen, energischen Kinn an. Es kam mir vor, als hörte der Wind auf, Blätter herumzuwehen, und als gerönne der gelbe Himmel.
    »Mein Vater kann es auch.«
    »Dein Vater.«
    »Lord Brant. Mein Vater. Er kann Jal-un.«
    Jantro beobachtete uns immer noch. Aus seinem Gesicht las ich Wachsamkeit, aber auch starkes Mitgefühl.
    »Ja«, antwortete ich. »Lord Brant beherrscht Jal-un. Aber du wirst es nicht lernen. Hörst du mich, Jantro? Brich diese Unterrichtsstunden sofort ab!«
    »Ja, Geschichtenspielerin«, sagte Jantro respektvoll. Und ehe Jorry protestieren konnte, gebot er in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ: »Hol deine Flöte, Jorry. Da vorne auf der Straße kommt der Junge, der dir
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