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Sax

Sax

Titel: Sax
Autoren: Adolf Muschg
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aufzulesen, und knotete sie in ein frisches Taschentuch. Noch dämmerte es kaum, doch als er den Waldfriedhof erreicht hatte, sangen die ersten Vögel, zögernd noch, wie halb im Schlaf. Jacques saß auf dem Findling vor der Pforte. Wo bleibt Hubert? fragte Moritz. – Er kommt sofort, grinste Jacques, wenn du ihn nur nicht fragst, woher. – Und als Hubert aus dem Busch kam, waren sie wieder zu dritt, so daß sie sich beieinander einhaken konnten. Doch diesmal trug sie, anders als damals in Athen, ihr vereinigter Schritt wie im Fluge.
    Es wollte noch immer nicht Tag werden, aber die leeren Straßen waren nicht zu verfehlen. Die Dörfer duckten sich dunkel, als wären sie unbewohnt, am Wege der drei. Niemand hielt sie auf.
    Der Feind ist von Osten gekommen, seit ich denken kann, sagte Hubert. – Aber eben viel gedacht haben wir uns damals noch nicht, ergänzte Jacques, und Moritz schloß: darum sind wir auch da, wo wir sind. Wie wäre es mit einem Marschlied zur Feier des Tages? – Wo soll da ein Tag sein? fragte Hubert, oder war es Jacques; Moritz antwortete jedenfalls: wo soll er herkommen, wenn wir ihn nicht bringen?
    Went on to organize
, sagte Hubert.
    Sein Selbstgefühl ist immer noch ungebrochen, sagte Jacques.
    Gebrochen schon, aber gut geschient, sagte Moritz.
    Wir gehen wieder, sagte Hubert, aber wohin?
    Erst müssen wir sehen, woher, sagte Moritz. Dreht euch noch einmal um.
    Der Hügel hinter ihnen war hell geworden; sie sahen das Fabriklein inmitten mächtiger Linden liegen, doch je besser sie sahen, desto mehr Leere sahen sie anstelle des Laubwerks, in dieser Leere aber Blatt für Blatt wie gemalt. Und sahen nun auch: es war eine Tarnung, hinter der die Schützen Stellung bezogen hatten. Karl und Rosa waren nicht bereit, die Flüchtlinge auszuliefern, doch nun, entdeckt oder verraten, hatten auch sie die Deckung verlassen, und gemeinsam erwartete man den Feind. Gewehrläufe stachen aus dem sanften Grün, und man sah mit einem Blick: die Vaterländischen Truppen würden sie wie Zahnstocher behandeln, an denen man ein Appetithäppchen in den Mund wirft. Mit einer einzigen Artilleriegranate ließ sich das Anwesen wegputzen, als hätte es nie gestanden, dann gab es mit Flüchtlingen und Widerstand keine Scherereien mehr, und man sparte sich die teuren Plätze im Lager.
    Aber noch bildete das Astwerk der Linden, wie Wurzeln des Himmels, ein Netz, welches das sonnenhelle Bild der Heimat zusammenhielt. In die Maschen war Lindenlaub geflochten, doch ließ das lockere Gitter durchblicken, was es verstecken sollte: Tövets weitläufiges Gesicht. Die Figuren der Flüchtlinge, die darin Deckung suchten, waren selbst, wie bei einem Vexierbild, Teil dieses Gesichts. Ein Menschengesicht aber bleibt wehrlos, es ist keine Stellung, die sich halten läßt, und gegen einen mechanischen Feind würde sie sich keinen Augenblick halten lassen, er brauchte nicht einmal entschlossen zu sein, nur unachtsam, nur ahnungslos.
    In diesem Augenblick richtete sich die Stange mit den drei Fischen und dem bunten Wimpel über dem Fabriklein auf, und sie streckten sich im frischen Wind.
    Moritz griff in die Tasche, löste den Knoten des Taschentuchs, in das er die Glaskugeln aus dem Krater geknüpft hatte, und verteilte sie unter den dreien. Jede einzelne Kugel enthielt die ganze Geschichte.
Jeder Tag,
den die Verfolgten länger gelebt haben werden
als die Gewalt,
ist der längste Tag und derjenige,
für den sie immer noch leben,
    bis sie dem Frieden der Erde,
zu der sie werden müssen,
trauen;
bis sie das Meer,
aus dem sie geschöpft sind,
ausgelöffelt haben;
    bis die Sterne, von denen ihr Staub gefallen ist,
selber Staub werden,
Blütenstaub.
    Nur getrost, der Augenblick,
den sie dem Tod voraus haben,
kurz oder lang
ist die ganze Geschichte.
    Jetzt trennten sich ihre Augen von der kleinen Heimat. Sie wandten sich um, Achermann, Asser und Schinz, und der Richtung zu, aus der es kommen mußte, wenn es kam.
    Und siehe, es kam faustdick und in breiter Front. Es sah nach einem Dammbruch aus, einer unaufhaltsamen Überschwemmung, einer fortschreitenden Welle, die nicht nur alles kurz und klein schlug, sondern selbst aus kurz und klein Geschlagenem bestand. Der Gewalthaufen, der sich heranwälzte, konnte auch eine flächendeckende Treibjagd sein, die Massenflucht vor einem Erdbeben, der Ansturm auf einen Totalausverkauf oder die Zusammenrottung zu einem Pogrom. Sicher war nur, daß die Bewegung alles mitreißen und fortspülen würde, was
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