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Sax

Sax

Titel: Sax
Autoren: Adolf Muschg
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April 1970. Dach
    Thomas Schinz, Privatbankier, hatte von seinem Rotarier-Freund Peter Leu am 6. April 1970 gerade eine rote Mauritius erworben und sich zur Feier des Tages eine Zigarre angesteckt. Darauf wünschte er, auf die legendäre Aussichtsterrasse der Liegenschaft geführt zu werden. Der Briefmarkenhändler erbleichte.
    Als sie nach einer halben Stunde wieder in die Beletage zurückgekehrt waren, legte Leu ein umfassendes Geständnis ab. Der Bankier war auf vieles gefaßt gewesen, auf eine endgültig zerstörte Ehe, eine Krankheit zum Tode, eine verheimlichte Straftat und natürlich auf einen Konkurs. Aber nicht auf eine Gespenstergeschichte.
    Um vier Uhr nachmittags hatte ihn Leu vor dem Hauptportal des Hauses «zum Eisernen Zeit» in Empfang genommen. Schinz inspizierte die Sonnenuhr über dem Torbogen; ein Metallstab ragte schräg aus der Sandsteinfront und kam eigentlich nie in den Fall, seinen Schatten auf den Fächer mit der Stundenskala zu werfen, denn die Hausfront lag zur Nordseite hin.
Ultima necat
lautete die Devise im geknickten Spruchband, und Leu lieferte gleich die Übersetzung: «Die letzte tötet.» Schinz bemerkte nur, daß eine Uhr, die gar keine Stunden anzeige, auch keine letzte zu melden habe. Aber auch er wußte einen Spruch, mit dem er sich als Bub im Album der Mädchen verewigt hatte: «Mach es wie die Sonnenuhr,/ Zähl die heitern Stunden nur.»
    Das Bronzeschild an der Tür zeigte Leus Geschäftsadresse an. Darunter ein doppelt gewinkelter Pfeil: «Hermann Frischknecht, Velos».
    Der ist doch Kommunist? fragte Schinz. Leu erklärte, Hermann sei sonst ein ordentlicher Mann, ein guter Handwerker. Seine Werkstatt im Soussol, nur von der Hofseite zugänglich, störe sehr wenig, auch sei er ein pünktlicher Zahler.
    Doch mal sehen, was der für eine Ordnung hat, entschied Schinz.
    Leu ging voran, in die Kluft zwischen den Häusern, eine Sackgasse ohne Namen, in der sich ein Torbogen öffnete; sie gelangten in den Hof des «Eisernen Zeit». Er lag fast ganz im Laubschatten; die Linde mußte so alt sein wie die Häuser, von denen nur die Rückseite zu sehen war, mit Ausnahme der Biedermeierfront des Hauses «zum Schwarzen Garten». Der Stamm war von Fahrrädern umlagert. Eines stand aufgebockt unter dem offenen Vordach, wo Frischknecht im Blaumann zugange war, ein Riese mit rosiger Tonsur im schütter gewordenen Haar.
    Schinz erkundigte sich nach den Parolen zum 1. Mai und wollte wissen, wie sich Frischknechts Partei die wild gewordenen Studenten vom Leib zu halten gedenke. Die Auskunft war unbestimmt, aber höflich.
    Typen wie Frischknecht behielten was Solides, befand Schinz auf dem Rückweg. Ihre politischen Hörner seien zwar kurz, aber wirksam, während die linken Geweihe, die sich Sohn Jacques und Genossen aufgesetzt hätten, nur zum Abstoßen gut seien.
    Sie traten in Leus «Schatzkammer», und Vera, die graublonde Sekretärin, erstarrte, als ihr Schinz mit der qualmenden Zigarre zuwinkte. Aber die Preziose lag hinter Glas wie ein medizinisches Präparat. Schinz beugte sich über das Miniaturprofil der jugendlichen Königin Victoria; er setzte die Musterung durch eine langstielige Lupe fort. Dann lehnte er sich in den Ledersessel zurück und hauchte Ringe gegen die Decke. Der Kopf des Fünfzigjährigen war rosig gepolstert und das graublonde Haar in der Mitte zu einer doppeltenMähne gescheitelt. Auch Peter Leu trug das Emblem der Rotarier am Revers, aber die großen Augen über der dünnen Nase blickten unstet, und sein schmaler Mund wurde von Hungerfalten abgeschnitten. Er legte die Hände zusammen; so ließ sich ihr Zittern unterdrücken.
    Schinz sagte nach einer Weile:
    Was macht das Schnitzelchen kostbar? Daß es auf einem Versehen beruht. Verabredet war POST PAID, und bei der ersten Serie ist dem Drucker POST OFFICE hineingerutscht, Gott weiß, warum. Das ist wie im richtigen Leben, Peter. Ohne Fehldruck keine Evolution. Wäre es beim Kopieren des Erbguts nichts weiter als korrekt zugegangen, wären wir immer noch Einzeller.
    Wenn du meinst, sagte Peter Leu.
    Als Kind habe ich gar nicht gewußt, daß man Marken
kaufen
kann. Ich dachte, man müsse auf Briefe warten. Da schenkte mir mein Vater zum achten Geburtstag einen großen Umschlag mit durchsichtigem Fenster. «1000 ganze Welt» für drei Franken. Plötzlich waren die Marken, die ich schon gesammelt hatte, nichts mehr wert. Erinnerst du dich an den alten Hirsch? Ein Sammler – Porzellan, Gobelins, Rüstungen. Und
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