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Sax

Sax

Titel: Sax
Autoren: Adolf Muschg
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sicher, daß es gewirkt hat. Zwischendurch vergaß ich, daß ich tot bin, Moritz. Wie kann man als Tote Bundesrätin werden? Aber man kann. Bei der Liebe hätte ich es merken müssen.
    Du hast geboren, sagte er, das kann eine Tote nicht.
    Ich habe Salomon geboren, aber zur Welt gekommen ist er ohne mich, in Shaidan. Meine Welt war es nicht. Er brauchte eine, in der er Herr sein kann. Als Kind war er schwierig, weil ich nicht fassen wollte: wir hatten nichts miteinander zu tun. Gefühle machen ihn ratlos wie eine Fremdsprache, die man nie lernen wird. Aber seit er nur noch in Bildern lebt, kann ihm nichts mehr passieren. Was ist eine Mutter? Ein Programm zum Ein- und Ausschalten. Wozu soll er mich jetzt noch einschalten?
    Tut ihm nie etwas weh?
    Sportverletzungen sind heilbar. Sollte ihm etwas Unheilbares zustoßen, läßt er sich einfrieren und wartet darauf, bis eine Therapie gefunden ist. Zeit spielt keine Rolle. In Shaidan ist man gegen den Tod versichert. Wer es sich leisten kann, friert den ganzen Körper ein, bevor sein Verfall zu weit fortgeschritten ist. Vierzig gilt als gutes Alter. Preiswerter ist es, nur den Kopf einzufrieren, aber da bleibt ein Risiko. Es ist ja nicht ganz sicher, ob sich der Rest hinterher nachbauen läßt.
    Wer garantiert den Betrieb der Kühlanlagen? Wie kauft man sich die Wächter dieses Schlafs?
    Das ist ein Schwachpunkt. Aber sie arbeiten daran, das Verfahren zu vereinfachen. Man verwahrt nur das Bild und stellt den Körper danach wieder her.
    Wofür? fragte Moritz.
    Als Träger von Reizen, sagte sie. – Da ist er immer noch unerreicht.
    Aber nicht, wenn der Tod jeden Ernst verliert, sagte er.
    Aber Moritz, sagte sie, das hat er doch schon längst.
    Nein. Sonst wäre Baums Tod
wirklich
um jeden Sinn gebracht.
    Sie betrachtete ihn eine Spur spöttisch. – Man hört, du bist noch ganz jung hier.
    Ich muß dich vor Gaul retten, sagte er.
    Ach, Gaul, sagte sie. – Er ist ein Märchenerzähler und betrachtet sich als Geschenk an die Welt. Ich bin ein Gaul, dem man ruhig ins Maul sehen darf, aber bitte nicht auf die Finger, das sagt er selbst. Es hat mir gutgetan, zum Märchen erzählt zu werden.
    Er versteckt seine Agenda, sagte Moritz.
    Er versteckt, daß er keine hat. Er inszeniert nur, was ohnehin passiert. Die Züge fahren ab, ob einer dazu auf dem Bahnsteig hampelt oder nicht. Aber ich schaue ihm gerne zu. Falsches Leben ist besser als gar keins. Hubert war nett, aber kein Leben. Wie konnte ich ihn lieben?
    Er sollte dich erlösen, Prinzessin, sagte Moritz, so etwas geht schief.
    Er
wollte erlöst werden, Moritz, aber nicht durch mich. Wie recht er hatte. Und wie habe ich ihn dafür gehaßt. Nur nicht genug. Ein rechter Haß hätte mich lebendig gemacht.
    Und du wolltest dir deine Lebensmittel immer noch aussuchen. Du warst wählerisch, Sidonie.
    Wieder war ihm ihr Name entschlüpft, und Gauls Stimme folgte auf dem Fuß.
    Die Schöpfung zieht den Atem ein, auch mit umgekehrter Stimme kann man sprechen, wie die Nachtbuben in alter Zeit vor den Fenstern der Jungfern, wenn sie unerkannt eindringen wollten, um nicht nur die Frau zu versuchen, sondern ihre Fruchtbarkeit. Wer eine Frau erkennen will, will nicht immer erkannt sein. Und wenn er schon kein Gott ist, als Unbekannter wird er vielleicht dazu. Wie schwer die Schöpfung wiegt, zeigt sich erst, wenn sie weniger als nichts geworden ist. Und da, ihr Lieben, wollt ihr immer noch etwas und jemand sein? Auch ein Kuß wird nicht gehaucht, er wird gesaugt, und jetzt wird euch der Todeskuß der Schöpfung einsaugen. Aber laßt euch nicht gleich Hören und Sehen vergehen, denn fürs Gehörbieten wir noch was: ein wundervolles Abschiedslied der Menschheit. Von Kastraten gejubelt, die verstellte Stimme vor dem Fenster. Eindringen ist nicht mehr. Und doch geht sie durch Mark und Bein. Hört, hört, wie das Verschwinden singt und klingt.
    Während im Hintergrund Chorgesang einsetzte, ein Bariton, zwei Tenöre, zwei Countertenöre, senkte Gaul seine Stimme zur Lautstärke des Einflüsterers.
Das ist geistliche Musik Carlo Gesualdos, des einzigen Meisters, der auch ein bekannter Mörder war. Er hat seine Frau und ihren Liebhaber geschlachtet und öffentlich ausgestellt; hört ihr, wie er vor Selbstmitleid schmilzt? Er ist es, der sich geopfert hat.
Ecce-Homo,
seht und hört den Schmerzensmann! Er war ein großer Herr, darum erreichte ihn die Strafe nicht; nun aber legt er seine Klage dem größeren Herrn zu Füßen. Es muß ihn geben, diesen
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