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Sax

Sax

Titel: Sax
Autoren: Adolf Muschg
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Ich hatte auch mal ein Vorbild, am Gymnasium. Ich wollte wie Judith werden, die im «Grünen Heinrich». Erinnerst du dich an den Keller-Zyklus im «Gugger»?
    Ich bin dafür aus New York hergeflogen.
    Judith lebte allein und hatte doch einen schönen Obstgarten. Sie hatte in einer Lotterie gewonnen wie ich. Und eine Weile war jede Nacht der grüne Heinrich bei ihr, der ihr mit vielen Küssen zu beweisen versuchte, daß er eine andere noch lieber hatte, Anna, die schon dem Tod gehörte. Das war einfacher für ihn. Aber Judith war lebendig, alle Männer im Dorf wollten sie und kamen nachts an ihr Fenster. Da hat sie das Licht gelöscht, den grünen Heinrich insBett genommen und nichts mit ihm anfangen können. Immer wenn er an ihrer nackten Brust lag, wurde er ganz ruhig. Kannst du dir das vorstellen?
    Er war ein Schweizer, sagte Moritz, die wollen gestillt werden, das reicht ihnen.
    Danach ging sie für immer, sagte Sidonie. – Sie fuhr mit dem gepackten Reisewagen an Heinrich vorbei, als er gerade am Exerzieren war. Man hat ihn zum Militär eingezogen, und jetzt kann er ihr nicht mal nachwinken, weil er den Finger an der Hosennaht halten muß. Dann kommandiert ihn der Feldwebel auf die andere Seite des Exerzierplatzes, und als er sich umsieht, ist die Kutsche verschwunden.
    Moritz hatte sich auf den Rücken fallen lassen, seine Stiefel hingen über die Bettkante. Sidonie beugte sich zu ihm, knüpfte sie auf, hob die befreiten Füße auf das Bett und setzte sich an seinen Rand. Er nahm die Fotografie des Schlagerkomponisten vom Bettumbau und betrachtete sie.
    Er dichtete noch mit neunzig Jahren, sagte Sidonie. – «Papa, wo liegen deine Beine, / auf denen ich so gerne saß?» «Ich kannte gut den Friedhofspfleger.» Er kam nämlich gerade am Friedhof vorbei, als der das Grab seines Vaters aushob.
    Willst du noch deinen Vater sehen,
wenn ich sein Grab ausheben tu?
    Dann mußt du früh zum Friedhof gehen.
    Schaust du beim Aushub wirklich zu?
    Und dann, hat er dem Totengräber wirklich zugeschaut?
    Ja, und noch mehr. Er hat Vaters Schädel mit nach Hause genommen und vor seinem Kamin aufgestellt.
    Und Papas Kopf schaut ernst herüber,
wenn ich nervös am Schreiben bin.
«Ruhe, mein Sohn, es geht vorüber,
Selbst nichts tun hat auch einen Sinn!»
    Moritz hatte still zu lachen begonnen, bis sie sagte: Wenn ich darf, lege ich mich einen Augenblick zu dir.
    Sie blies die Kerze aus, schlüpfte aus der Jacke und hängte sie über die Stuhllehne. Dann streifte sie die Schuhe ab, legte sich an seine Seite und fiel auf seinen rechten Arm, den er ausgestreckt hatte; er mußte sie an sich ziehen, damit sie auf der schmalen Unterlage Platz fand.
    Da klatschten die ersten Tropfen wie Peitschenschläge gegen das Fensterglas. Immer wieder stand der Raum in taghellem Licht und erlosch danach um so tiefer, während die Donnerschläge folgten, grell und krachend, dann wieder als umfangreiche Zusammenstürze, denen ein grollendes Nachpoltern folgte. Der Sturm heulte ums Dach, Regenböen schlugen wie schwere Seen gegen den Giebel. Moritz und Sidonie waren stumm, da sie ihr eigenes Wort nicht verstanden hätten, und hielten sich wie Schiffbrüchige aneinander fest. Allmählich begann sich das Gewitter abzuschwächen, es schien weiterzuziehen, doch Moritz wachte in höchster Spannung, denn Sidonie atmete kurz und hastig. Dann sagte sie mit hoher Stimme:
    So wäre es gewesen, sagte sie.
    Es ist schön, sagte er.
    Und jetzt könnte es so bleiben, sagte sie. – Ewig, ewig, ewig.
    Ach Sidonie, sagte er an ihrem Ohr, ich habe doch noch zu tun.
    Auch jetzt noch?
    Jetzt erst recht.
    Sie dämmerten noch einmal und erwachten engumschlungen. Ruhig, gleichmäßig rauschte der Regen, und doch wirkte das aschgraue Licht im Kinderzimmer eine Spur heller. Wieder schien es Moritz, Sidonie habe aufgehört zu atmen, aber als er sich über sie beugte, fanden sich ihre Lippen.
    Kommst du mit? fragte Moritz.
    Einmal wollte ich das hören, nur ein einziges Mal. Es war die Mühe wert, daß ich so lange geblieben bin. Ich danke dir.
    Ich kann die Menschen nicht lassen, Sidonie.
    Ich lasse dich, Moritz.
    Was sind wir für ein gutes Paar.
    Endlich. Endlich.
    Ich gehe keinen Schritt von dir weg.
    So geh, und ich wünsche dir alles Glück der Welt.
    Als er das Haus verließ, hatte der Regen aufgehört. Die
Picture Pit
war ein einziger Krater, schimmernd rund wie ein abgestürzter Mond und bis zum Rand mit Glasmurmeln gefüllt. Er bückte sich, um eine Handvoll
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