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Gefrorene Seelen

Gefrorene Seelen

Titel: Gefrorene Seelen
Autoren: Giles Blunt
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    I n Algonquin Bay wird es früh dunkel. Wer im Februar nachmittags gegen vier zum Airport Hill hinauf- und eine halbe Stunde später wieder hinunterfährt, sieht die Straßen der Stadt wie beleuchtete Rollbahnen unter sich im Dunkeln glitzern. Der sechsundvierzigste Breitengrad an sich liegt eigentlich gar nicht so weit nördlich; man kann viel weiter nördlich und immer noch in den Vereinigten Staaten sein, und sogar Englands Hauptstadt London liegt ein paar Grad näher am Nordpol. Aber wir reden hier von Ontario, Kanada, und Algonquin Bay im Februar ist der Inbegriff des Winters: Algonquin Bay liegt unter einer geschlossenen Schneedecke, in der Stadt geht es ruhig zu, und es ist kalt, eisig kalt.
    John Cardinal kam vom Flughafen und war auf dem Weg nach Hause. Er hatte gerade seine Tochter Kelly verabschiedet, die an Bord einer Maschine gegangen war, um über Toronto in die USA zu fliegen. Im Auto roch es noch nach ihr, jedenfalls nach dem Parfum, das seit kurzem zu ihrem Markenzeichen geworden war: »Rhapsodie« oder »Ekstase« oder etwas in der Richtung. Für Cardinal, der nun ohne Frau und Tochter auskommen musste, roch es nach Einsamkeit.
    Draußen waren es etliche Grade unter null; der Winter hatte den Wagen fest im Griff. Die Scheiben des Toyota Camry waren auf beiden Seiten gefroren, und Cardinal kratzte mit einem primitiven Plastikschaber ohne großen Erfolg an ihnen herum. Von Airport Hill kommend, fuhr er in südlicher Richtung, bog erst links auf die Umgehungsstraße ab und dann nochmals links auf die Trout Lake Road. Von hier ging es dann wieder in nördlicher Richtung nach Hause.
    Sein Zuhause, wenn man das ohne Catherine und Kelly überhaupt so nennen konnte, war ein bescheidenes Holzhaus an der Madonna Road, das kleinste unter den Cottages, die wie eine langgestreckte Brosche das Nordufer des Trout Lake säumten. Cardinals Haus sollte eigentlich »winterfest« sein, jedenfalls hatte das der Immobilienmakler behauptet, doch winterfest war ein relativer Begriff. Kelly sagte immer, in ihrem Schlafzimmer könne man gut Eiskrem aufbewahren.
    Die Zufahrt zum Haus lag versteckt hinter meterhohen Schneewehen, deshalb sah Cardinal das Auto, das seine Zufahrt blockierte, erst im letzten Augenblick und wäre beinahe aufgefahren. Aus dem Auspuff des parkenden Autos, eines der Zivilfahrzeuge, die bei der Polizei im Einsatz waren, kamen weiße Abgaswolken. Cardinal wendete und parkte gegenüber. Lise Delorme, die im Police Department von Algonquin Bay ganz allein die Abteilung für Sonderermittlungen verkörperte, stieg aus dem Wagen und kam durch die Abgasschwaden zu ihm herüber.
    Das Police Department war trotz »fortwährender Bemühungen um Gleichberechtigung am Arbeitsplatz«, wie es im Bürokratenjargon immer so schön hieß, weiterhin eine Bastion des männlichen Chauvinismus. Allgemein herrschte dort die Auffassung, dass Lise Delorme ein bisschen zu – ja, was eigentlich? – für ihre Aufgabe war. Schließlich war man zum Arbeiten dort, zermarterte sich das Hirn und konnte keine Ablenkung brauchen. Nicht, dass die Delorme wie ein Filmstar aussah. Das nicht. Aber sie hatte so eine gewisse Art, einen anzusehen, wie McLeod es ausdrückte – und da hatte McLeod ausnahmsweise einmal Recht. Sie hatte die irritierende Angewohnheit, einen mit ihren ernsten braunen Augen ein klein wenig zu lange, vielleicht nur den Bruchteil einer Sekunde, anzublicken. Fast so, als wollte sie einem die Hand unters Hemd schieben.
    Kurz, Lise Delorme konnte einen verheirateten Mann einigermaßen in Verlegenheit bringen. Und Cardinal hatte noch andere Gründe, sie zu fürchten.
    »Ich wollte schon aufgeben«, sagte sie. Ihr frankokanadischer Akzent war unberechenbar: Die meiste Zeit bemerkte man ihn kaum, bis plötzlich im Auslaut die Konsonanten verstummten undihre Sätze mit einem doppelten Subjekt aufwarteten. »Ich habe mehrmals bei Ihnen angerufen, aber keiner hat abgenommen, und Ihr Anrufbeantworter, der lief auch nicht.«
    »Den habe ich ausgeschaltet«, sagte Cardinal. »Aber weshalb sind Sie überhaupt hergekommen?«
    »Dyson sagte, ich solle Sie holen. Wir haben eine Leiche.«
    »Da sind Sie bei mir falsch. Ich arbeite nicht im Morddezernat, wissen Sie das nicht?« Cardinal versuchte sachlich zu bleiben, hörte aber selbst den bitteren Unterton in seiner Stimme.
    »Würden Sie mich bitte durchlassen, Sergeant?« Der »Sergeant« war ein gezielter Nadelstich. Zwei Kripobeamte im gleichen Rang redeten sich
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