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Sax

Sax

Titel: Sax
Autoren: Adolf Muschg
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dunklen Schwester!
    Moritz stand auf, aber die Stimme verfolgte ihn unentwegt. Das aschgraue Licht zeigte Bilder der Verwahrlosung, Stilleben aus Schrott. Die Räume waren mit technischem Mobiliar verstopft, Mischpulten, Monitoren, Fernsehkameras, über die Böden liefen Kabel, schwarzes Gewürm, mit Klebeband befestigt. Die einstige Wohnetage wirkte wie ein geplündertes Studio, dessen Personal überstürzt fliehen mußte. Doch mit jedem Stockwerk, das Moritz höherstieg, schien der Überfall weiter zurückzuliegen. Das Gerät stammte jetzt aus den fünfziger und sechziger Jahren, Magnettonanlagen, Schaltanlagen, Mikrophone auf Ständern übereinandergeworfen wie bei einem Schiffbruch. Sidonies Privaträume waren zugemüllt, Küche und Badezimmer verrottet, er klopfte an ihr Schlafzimmer, und als er es öffnete, roch es nach Kampfer, das Bett war abgezogen wie nach einem Todesfall. Doch Gauls Stimme folgte ihm immer noch.
    Die Materie leiert ihn an, den großen Akt ihrer Zurücknahme, die Antimaterie hüpfte ihr nur so entgegen, ganze Häuser schmoren zu Kügelchen zusammen. Das sieht noch wie Sand aus, aber es ist erst der Anfang. Denn seht und hört, bis euch Sehen und Hören vergeht: unsere ganze Milchstraße schnurrt zum Kügelchen ein! Der Titan Atlas fragt sich, wo die Erdkugel hingekommen sein mag, die er gerade noch gestemmt hat, und jetzt fällt ihm das unendlich schwere Kügelchen einer ganzen Galaxie auf den Fuß! Aber davon würden beide gar nichts merken – zu glatt fiele es durch sein Titanenfleisch. Aber so durchgefallen, wie der Homo sapiens durch das kleinste schwarze Loch ist: das gibt’s gar nicht! Von Homo dada-blabla-gaga ist gleich dreimal nichts übriggeblieben! Nichts, nichts, dreimal nichts! Undwahrlich, ich sage euch: wäre der Mensch nicht von Anfang an ein gieriges Vakuum gewesen, das Konzentrat einer himmelschreienden Negation, er hätte die Antimaterie gar nicht munter machen können und das Ding nicht gezündet, mit dem wir jetzt alle zusammen hochgehen, hoch, hoch, hoch! Es lebe der große Lapsus! Lang lebe die Ökolypse!

30
September 2013. Alles gut
    Moritz war im Dachstock angekommen, wo Salomon früher sein Studio gehabt hatte, und öffnete die Tür. Auf der Schwelle blieb er stehen. Ein Bett; ein altertümlicher Nachttisch, auf dem eine Kerze brannte. Vor dem Fenster saß eine junge Frau an ihrem Arbeitstisch und drehte ihm den Rücken zu. Sie trug ein zweiteiliges dunkelblaues Jackettkleid, das einer Schuluniform glich, und ihr Haar war zu einem Pferdeschwanz gerafft. Der Raum roch nach Bittermandeln.
    Hier bin ich, sagte er, entschuldige, das Geschwätz folgt mir überall.
    Hast du das Paßwort vergessen? fragte sie, ohne sich umzudrehen. – Sprich meinen Namen aus.
    Sidonie, sagte er.
    Die Stimme brach ab, doch Sidonie blieb unbeweglich sitzen und blickte über ihren leeren Tisch durch das offene Fenster. Der Blick ging nach beiden Seiten des Sees, sie waren dunkel, doch über den Grat am anderen Ufer lief der Schauer eines Wetterleuchtens. Hie und da erhellte sich der Himmel von einer größeren Detonation; das Echo kam lange hinterher als entferntes Grollen an.
    Ein Gewitter, sagte er.
    Es ist wieder Krieg, sagte sie. – Hier war ich gerettet.
    Was tust du hier?
    Ich präge mir alles ein. Danke, daß du gekommen bist. Bitte nimm Platz.
    Doch außer dem Drehstühlchen, auf dem Sidonie saß, gab es keine Sitzgelegenheit.
    Aufs Bett, sagte sie. – Genier dich nicht.
    Er ließ sich nieder; hier war der Bittermandelgeruch stärker. Auf der Umrandung standen Wörterbücher und ein Glas Wasser, daneben das Foto eines jungen Mannes mit Scheitel und Tolle, er trug einen Schillerkragen und das glatte Lächeln der vergangenen vierziger oder fünfziger Jahre.
    Wer ist das? fragte er.
    Statt einer Antwort begann sie leise zu singen:
Nach em Räge schint d’ Sunne, nach em Briegge wird g’lacht
. – Stimmt das?
    Warum nicht? sagte er. – In diesem Augenblick sah er die hinter dem Foto versteckte Ampulle, aber sie war zerbrochen.
    Stimmt auch die Mundart? fragte sie.
    Das darfst du mich nicht fragen, ich habe kein Ohr dafür. Und wer war nun der junge Herr?
    Mein Schwarm, mit zehn, weil er Lale Andersen geheiratet hatte, die Sängerin von «Lili Marleen». Er hieß Artur Beul, sein Interesse an Frauen war begrenzt, glaube ich, sie war auch älter als er. Aber sie brauchte einen Schweizer Paß wie ich. Er war ein Lehrer aus der Innerschweiz, für ihn bedeutete sie die große Welt.
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