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Die Launen des Todes

Die Launen des Todes

Titel: Die Launen des Todes
Autoren: Reginald Hill
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    1
    Der Arzt
    Imaginierte Szenen
aus
Unter anderem:
Die Suche nach Thomas Lovell Beddoes

Von Dr. phil. Sam Johnson
(erste Fassung)
    Clifton, Glos., Juni 1808
    »Genau, Mann. Halt er ihren Kopf, halt er ihren Kopf. Um Gottes willen, er da hinten, stemm er die Schulter dagegen. Mach schon, Mädel, mach schon.«
    Der diese Anweisungen schreit, ein stämmiger Mann um die fünfzig mit kurz geschorenem Haupthaar und gebieterischem Antlitz, steht mitten auf einer breiten, geschwungenen Treppe. Einige Stufen unter ihm spreizt sich ein Bauer, dessen von Natur aus gesunde Gesichtsfarbe durch die Anstrengung noch röter leuchtet, wie der Ankermann beim Tauziehen in die Treppe und zerrt mit aller Kraft an einem Seil, dessen unteres Ende um den Hals einer großen braunen Kuh gebunden ist.
    Hinter dem Vieh wedelt ein sichtlich nervöser Lakai ermunternd mit den Händen. Unten in der mit Marmor ausgelegten Eingangshalle sehen eine Haushälterin und ein Butler mit empörtem Missfallen zu, während oben, die Arme voller Laken, zwei Hausmädchen an der Balustrade des Treppenabsatzes lehnen und sich, alle Zucht und Ordnung fahren lassend, der ungetrübten Freude ob dieser seltenen Belustigung hingeben, wobei besonders die Verlegenheit des Lakaien sie in ihren Bann schlägt.
    Zwischen ihnen kniet ein kleiner Junge mit ernstem Gesicht, er hält das vergoldete schmiedeeiserne Geländer umfasst und betrachtet die Szene mit interessiertem, aber keineswegs überraschtem Blick.
    »Schieb er an, Mann, schieb er an, sie beißt ihn schon nicht!«, brüllt der Stämmige.
    Der Lakai, gewohnt zu gehorchen und vielleicht auch der Blicke der Hausmädchen gewahr, lehnt sich mit beiden Händen gegen die Hinterbacken der Kuh.
    Und das Vieh, als würde es durch den Druck stimuliert, schwingt den Schwanz nach oben und entleert sein Gedärm. Der Lakai, vom verderblichen Strahl mitten auf die Brust getroffen, taumelt nach hinten, die Mädchen kreischen, der kleine Junge lächelt ob des Spaßes, und die Kuh, angetrieben von ihrer überschwänglichen Eruption, galoppiert mit solcher Geschwindigkeit die noch verbliebenen Stufen hinauf, dass sowohl der Bauersmann wie der Stämmige nur unter Mühen sicher den Treppenabsatz erreichen.
    Unten vergewissern sich derweil Butler und Haushälterin, dass der beschmutzte Lakai unverletzt ist. Dann hastet die Frau die Treppe hoch, ihr Gesicht feuerrot vor Entrüstung, worauf die Mädchen vor ihrem Anblick eilends den Rückzug antreten.
    »Dr. Beddoes!«, schreit sie. »Das geht über jedes Maß hinaus!«
    »Kommt, Mrs. Jones«, sagt der stämmige Mann. »Ist die Gesundheit Eurer Herrin nicht der kleinen Mühe mit Besen und Kehrichtschaufel wert? Führ er sie weiter, George.«
    Der Bauersmann lotst die nun völlig eingeschüchterte Kuh über den Treppenabsatz zu einer halb offen stehenden Tür. Der Mann folgt ihm, einen Schritt dahinter der kleine Junge.
    Mrs. Jones, die Haushälterin, der nichts Rechtes auf den Tadel des Arztes einfallen will, ändert ihre Stoßrichtung.
    »Ein Krankenzimmer ist kein Ort für Kinder«, ruft sie aus. »Was würde seine Mutter nur sagen?«
    »Seine Mutter, Ma’am, eine Frau mit Verstand, die sich ihrer Pflichten bewusst ist, würde sagen, dass es sein Vater am besten weiß«, gibt der Arzt spöttisch zu Bedenken. »Die Augen eines Kindes sehen die simple Natur der Dinge. Es sind erst die Fantasiegebilde alter Weiber, die jener den Anschein des Schrecklichen verleihen. Mein Junge hat ungerührt Dinge erblickt, die so manchen strammen Studenten der Medizin zum Rinnstein haben taumeln lassen. Es wird ihm von Nutzen sein, wenn er dem Vorbild seines Vaters folgt. Komm jetzt, Tom.«
    Mit diesen Worten nimmt er den Jungen an der Hand, schiebt sich an der Kuh und ihrem Hüter vorbei und drückt die Tür zum Schlafzimmer auf.
    Es ist ein großer Raum, erbaut im zeitgemäßen, luftigen Stil, allerdings von schweren Vorhängen verdunkelt, die vor den Fenstern hängen, und nur von einer einzigen Wachskerze beleuchtet, in deren fahlem Schein die Umrisse einer Gestalt erkenntlich sind, die in einem großen, rechteckigen Bett liegt. Es handelt sich um eine Frau, sie ist alt, mit eingefallenen Wangen, geschlossenen Augen, so blass wie das Wachs der Kerze, und sie zeigt nicht das geringste Anzeichen von Leben. Neben ihrem Bett kniet ein hagerer, ganz in Schwarz gekleideter Mann, der aufblickt, als die Tür sich öffnet, und sich daraufhin langsam erhebt.
    »Ihr kommt zu spät, Beddoes«,
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