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Finkenmoor

Finkenmoor

Titel: Finkenmoor
Autoren: Myriane Angelowski
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Bremen 2002
    Die Haustür fiel laut ins Schloss und verschluckte sämtliche Geräusche im Parterre. Timms Zeichen zum Aufbruch, das ersehnte Signal. Er sprang aus dem Bett, sauste zum Fenster und blinzelte gegen die Julisonne hinunter zum Carport. Der tiefblaue Multivan rollte auf die verkehrsberuhigte Straße. In Wohngebieten hielt sich seine Mutter an Geschwindigkeitsvorgaben. Timm blieb so lange am Fenster stehen, bis der Wagen in der ersten Kurve verschwand.
    Barfuß, nur in Unterhose, stürmte er die Treppe hinab in die Küche. Hier waren die Rollläden bis auf einen Spalt heruntergelassen. Seit Wochen fiel das Thermometer kaum unter dreißig Grad, was die Erwachsenen zum Stöhnen brachte. Timm verstand das Gejammer nicht, für ihn war die Hitze ein Segen.
    Er goss Milch in ein Glas und rührte Kakaopulver hinein. Trinkend überflog er den Zettel auf dem Küchentisch: »Guten Morgen, Timmi, bring doch bitte den Müll raus, hol einen kleinen Sack Grillkohle im Supermarkt und nimm die leeren Flaschen mit, die in der Diele stehen. Küsschen!«
    Seine Mutter konnte anwesend sein, auch wenn sie Kilometer entfernt war. Allerdings gelang es Timm immer besser, ihre Autorität zu ignorieren. Heute hatte er eigene Pläne, tilgte die Arbeitsaufträge deshalb sofort aus seinem Gedächtnis, zog einen Stuhl heran, kletterte hinauf und öffnete das kleine Fach über der Dunstabzugshaube.
    Er musste sich auf Zehenspitzen stellen, um die schmale Blechdose zu fassen. Mit klopfendem Herzen hob er den Deckel. Zwei Zwanziger und drei Zehneuroscheine zauberten ein Lächeln auf seine schmalen Lippen. Zielgerichtet griff er einen Zehner und stellte die Dose zurück.
    Ein kurzes Aufflackern seines Gewissens bügelte er ab. Das neue Medienbüro seines Vaters lief ausgezeichnet, das hatte Timm aufgeschnappt. Warum seine Eltern trotzdem nicht einsahen, dass er hundert Euro teure Markenturnschuhe brauchte und ein Handy heutzutage zur Grundausstattung gehörte, blieb Timm schleierhaft. Kein Wunder, dass er nie auf dem Laufenden war und seine Freunde ihn nicht für voll nahmen.
    Diese verdammte Kohle. Um jeden Cent musste er betteln! Was blieb ihm da anderes übrig, als seine Eltern gelegentlich zu bestehlen? Bisher schienen sie nichts bemerkt zu haben. Timm wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Klauerei aufflog. Aber das Leben eines Elfjährigen ohne Geld war heutzutage kein Kinderspiel, davon konnte Timm ein Lied singen.
    Wenn seine Eltern arm wären, klar, dann lägen die Dinge anders. Doch Timm hatte Kontoauszüge gesehen, neulich, im Flur auf der Kommode. Sein Vater verdiente einen Haufen Geld, obwohl das Geschäft angeblich erst anlaufen musste. Deshalb lief das Familienleben im Augenblick auf Sparflamme. Seine Mutter machte einen richtigen Wind deswegen. »Es ist nur vorübergehend, Papa hat bald wieder mehr Zeit.« Sie wurde nicht müde, dies zu beteuern, und versuchte Timm mit Aktivitäten aufzuheitern, obwohl er gar nicht aufgeheitert werden wollte. Es half nichts, samstags gehörte er seiner Mutter. Flohmarktbesuche, Kindertheater oder unendlich lange Wanderungen. Chancen, dem zu entrinnen, waren selten.
    Heute bot sich eine seltene Gelegenheit.
    Seine Mutter besuchte irgendwen im Krankenhaus und kam erst am späten Nachmittag zurück. Ein wunderbarer Tag lag wie eine ausgebreitete Picknickdecke mit lauter Köstlichkeiten vor ihm, und er konnte zugreifen, sich nach Herzenslust bedienen.
    Timm faltete das Geld in seiner Hand.
    Um sich wenigstens für den Schwimmbadbesuch abzusichern, den seine Mutter mit Sicherheit nicht erlaubt hätte, rief Timm seinen Vater an und hatte Glück. Georg Koranth ärgerte sich gerade über einen Kunden, erfragte keine Details und wünschte seinem Sohn viel Spaß.
    Erleichtert lief Timm in sein Zimmer, warf ein Handtuch in den Rucksack, streifte Schwimmhose und T-Shirt über, schlüpfte in ausgelatschte Turnschuhe und rannte aus dem Haus.
    Sonne empfing ihn. Das wunderbare Gefühl des Sommers hüllte ihn ein, als er sich auf sein Rad schwang. Der Fahrtwind brachte keine Abkühlung, sodass er schon nach wenigen Metern zu schwitzen begann. Trotzdem fuhr Timm zügig. Häuser, Menschen und Straßen flogen vorbei.
    Im Handumdrehen erreichte er das Freibad. Die Suche nach einer Lücke im Fahrradständer gab er schnell auf und schloss sein Mountainbike an einen Laternenpfahl. Als er über die Straße zum Eingang ging, registrierte er Rolf Kallwitz, der in seiner Klapperkiste saß. Timm winkte.
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