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Sax

Sax

Titel: Sax
Autoren: Adolf Muschg
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Herrn, denn wohin sonst mit der innigen Dissonanz des Tötens? Dem Wohlklang der äußersten Sünde?
    Die Singstimmen ließen Moritz schwindeln, denn die strenge kontrapunktische Architektur
verrutschte
beim Hören, als bögen sich die Wände und glitten die Böden.
    Sidonie, sagte er.
    Ja, Moritz, antwortete sie.
    Wenn jeder die Höchststrafe verdiente, dem die Liebe nicht gelingt, so müßte die Erde zur Schlachtbank werden, und die Menschheit stürbe aus.
    Aber so ist es doch, Moritz, nur daß sie sich einreden, sie täten es aus Liebe, auch das Schlachten, und das am meisten. Warum ist die Menschheit nicht ausgestorben? Weil sie Vergewaltigung immer noch mit Liebe verwechseln kann.
    Du nicht? fragte er.
    Ich auch. Als ich das merkte, als junge Frau, wollte ich schon vorsorglich sterben – der Rest, dachte ich, lasse sich
spielen.
Aber auch das ist mir nicht gelungen.
    Als ich dich zum ersten Mal spielen sah, bei uns auf dem Dach, fand ich dich überzeugend.
    Weil ich vom Spielen erlöst werden wollte, dafür war der tote Freiherr eine passende Rolle. Aber ich suchte einen lebenden Advokaten,Moritz, einen von euch wünschte ich mir zum Erlöser. Dafür hätte ich ihm alle Schätze der Welt versprochen. Aber Jacques wollte mich nicht, und dich konnte ich nicht kriegen.
    Jacques wollte dich nicht? fragte Moritz.
    Sie lächelte. – Das scheint dich am meisten zu wundern. Aber eure Mütter waren zu stark. Es wurde keiner von euch.
    Und Hubert? fragte er.
    Keiner von euch
, wiederholte sie und gab ihm das Bild wieder in die Hand. – Hubert hat den Tod in mir gesehen, von Anfang an, und er hat verdammt richtig gesehen. So etwas macht ein Paar unzertrennlich, und nur der Tod kann es scheiden. Das hat er gnädig getan, Hubert hat ihn gefunden, in seinem Sax, und ich wünsche ihm seine Kapuzinergruft – auf Nimmerwiedersehen.
    Sidonie …, sagte er und hatte es kaum gesagt, da stiegen die fünf gedehnten Singstimmen auf, verklangen auch schon in einer astronomischen Ferne, und Gaul meldete sich zurück,
sotto voce
:
    Dann ging alles sehr schnell. Die tiefgefrorene Oberfläche brach auf, ließ ein feuerflüssiges Inneres austreten, Hitzestürme überflogen wie Todesschauer eine Körperform, die nun ganz verlorenzugehen schien. Der Feuersumpf gärte, die Brandsuppe schaukelte vom Platzen unzähliger Blasen, die aufstiegen und sich zu Kratern befestigen wollten; dann aber war es, als würde das Feuer unter dem Topf immer kleiner gestellt, das neue Gestirn befestigte sich und machte sich auf die galaktische Reise, einem neuen Horizont entgegen, unterwegs zu seiner nächsten Form oder gar keiner mehr. Sie verkleinerte sich, sei es durch Entfernung, sei es durch weitere Verdichtung der Masse, nicht Terra mehr, sondern Tellus, ein verschwindender Himmelskörper unter vielen, viel zu vielen, und auf keinem ist Leben. Aber bevor er verschwand, drehte er noch einmal sein Gesicht zurück, ganz fremd geworden, zugleich vertraut wie der Mond, als er noch traurig und prächtig über den Waldrändern der Menschheit aufgegangen war, und doch voll und schön.
    Sidonie, sagte Moritz, ich glaube, du hast Hubert nie gekannt, und mit jedem Ehejahr weniger. Du hast dich selbst nicht kennengelernt. Du hast dich zu früh verabschiedet. Du warst die erste, diesich einen Helm aufgesetzt hat, als du dein Gift schlucktest: damit bist du unter die Bilder geraten, aber zu dir selbst bist du nicht mehr gekommen.
    Dein Herbert Baum ist auch ein Bild, sagte sie.
    Aber sein Bild ist ein Andenken. Es sagt mir: dieser Mensch ist nicht mehr da. Er ist tot, für immer. Und es sagt mir: er fehlt. Er fehlt ganz und gar, aber seine Sache bleibt, und an ihr gibt es immer noch zu tun. Das macht ihn zum Vorbild. Ein Bild ist vorbei, dann kommt das nächste. Ein Vorbild hinterläßt eine Lücke, es ist nie vorbei.
    Ich bin kein Jahr nach seinem Tod geboren, sagte sie. – Wenn ich seine Tochter wäre?
    Nein, sagte Moritz. – Er hatte seine Marianne. Er war die Treue selbst.
    Dann hätte er nie gelebt, sagte sie. – Kein Mensch ist die Treue selbst. Und wenn meine Schwester recht hat, war mein Vater ein Nazi.
    Und wenn? sagte er. – In jedem und jeder steckt ein Nazi, dafür ist kein Vater haftbar. Mach dir kein Bild von ihm. Such dir ein Vorbild, das dir erlaubt, weder Nazi noch Jüdin zu sein, sondern …
    Sie drehte sich ihm zu.
    Jetzt kannst du
Sidonie
sagen, sooft du willst, sagte sie.
    Sidonie, sagte er. – Sidonie! Sidonie.
    Alles tot, sagte sie. –
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