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Sax

Sax

Titel: Sax
Autoren: Adolf Muschg
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Froschlaich aus. Das Ufer gegenüber, sonst lange nach Mitternacht noch glitzernd wie eine Kirchweih, schien gar nicht mehr besiedelt.
    Gestern noch wären hier Bewegungsmelder angesprungen, Scheinwerfer hätten Moritz eingefangen wie ein Insekt, Wachmänner wären aus dem Busch getreten. Jetzt wirkte das Anwesen verlassen, alle Türen standen offen, und es gelang ihm nicht einmal, einen Lichtschalter zu finden. Es wäre nicht der erste Ausfall des ganzen Stromnetzes gewesen, aber der «Gugger» verfügte über ein Notaggregat, und bis es ansprang, wanderten Taschenlampen durch die dunklen Räume, erhellten sich Fenster mit Kerzenschein. Aber jetzt blieb alles dunkel. Nicht einmal ein Autolicht war zu bemerken. Moritz lauschte angestrengt: kein Motorengeräusch, nichts. Doch im Innern des Hauses redete jemand.
    Er war mit dem «Gugger» vertraut und hatte doch Mühe, die Treppe in den Oberstock zu finden. Nachdem sich seine Augen an den Schimmer von Licht gewöhnt hatten, versuchte er, auf die Stimme zuzugehen, umsonst; sie schien bald von dieser, dann von jener Seite herzukommen, und es war immer noch die Stimme Gauls.
    EDEN, ENDE, ein Druckfehler kann folgenreich sein. Hätte der Postmaster von Mauritius das gewünschte POST PAID geliefert statt des idiotischen POST OFFICE, die rote und die blaue Mauritius wären vielleicht zahlbar, doch wer fragte ihnen nach? Auch der nackte Affe ist erst durch die SÜNDE Mensch geworden, sie zeichnet ihn aus vor allen Geschöpfen, die sich ahnungslos fortpflanzen und sterben. Er aber, der es wissen konnte
, mußte
es auch wissen. Jetzt weiß er es: die SÜNDE ist der TOD, diesesWissen holt man sich bei der Idiotie des Lebens, und einen Ablaß gibt es nicht. Tod ist nicht verhandelbar.
    Offensichtlich wurde die Stimme durch versteckte Lautsprecher verbreitet. Demnach konnten nicht alle Energiequellen im Haus außer Betrieb sein; im Kachelofenzimmer war eine historische Jukebox beleuchtet wie ein Christbaum. In ihrem Licht waren auch die Bühnenkulissen zu entziffern, mit denen der Raum vollgepackt war; sie stellten Gugger selbst dar, eine naive Fachwerkidylle für ein Dorftheater. Gaul hatte zu singen begonnen, und Moritz setzte sich auf eine Kiste.
    Was gäb’ es doch auf Erden, / Wer hielt’ den Jammer aus, / Wer möcht’ geboren werden, / Hieltst du nicht droben Haus! / Du bist’s, der, was wir bauen, / Mild über uns zerbricht, / Daß wir den Himmel schauen, / Darum so klag’ ich nicht. – Hätten wir den Glauben an einen gnädigen Gott nicht verpaßt, so sähen wir in diesen Himmel statt in die Röhre und endeten dem Werk unserer Hände gelassen hinterher, dem
Zeug und Gestell,
wie es ein Kirchenvater zu nennen pflegte, vom Steinbeil bis zum Computer. Liebe Freunde, eben melden mir die Instrumente, daß ihr in den Zustand der Schwerelosigkeit eingetreten seid. Merkt ihr schon was? Ei, ei, ei, die vielen schwarzen Löcher, die sich in unserer Mitte aufgetan haben! Ein Wirbelchen linksherum, ein Wirbelchen rechtsherum: schon sausen wir durchs Rohr, und die ganze Geschichte wird abgesaugt auf Nimmerwiedersehen! Lang mögen sie leben, die kleinen schwarzen Löcher in unserer Mitte! Sie sind der letzte Schrei der Materie! Wen diese Schlupflöcher entsorgen, der braucht sich nie wieder abzuzappeln! Ruhe ist gar kein Wort mehr für das, was er findet! So wesentlich wie das, worauf man dann reduziert wird, hat man sich selbst lieber nie vorgestellt! Was für eine Konzentration – alles dicht! Es steht eine Generalabrüstung unserer Galaxie bevor, Freunde, sie sucht die Ruhe, die ihr nach dem zweiten Energiesatz zusteht. Vorher macht sie noch einmal Remmidemmi, gönnt sich einen Exzeß, einen Anfall wüster Reduktion. Aber dann gibt sie ihn endlich preis, den minimalen Vorsprung, den die Materie gegen die Antimaterie herausgeschunden hat. Wozu? Ihr wißt es schon: damit überhaupt etwas sei und nicht vielmehr nichts!
    Laßt uns dem Ende der Materie ein wenig nachtrauern, sie hat einenNekrolog verdient. Wie ist der geplagte Mutterstoff seinem winzigen Vorsprung nachgejagt, was hat er sich’s kosten lassen, immer wieder den Wanderpreis der Evolution zu holen! Wie hat er sich abgeplagt, daß dieser Fortschritt seinen Kreaturen zugute kommt, auch den dümmsten – uns, hochverehrte Mitträger der menschlichen Kultur! Wenn das nicht die undankbarste aller Plagen war! Schluß damit! Diese Schöpfung hat ihren Ruhestand verdient! Zurück, liebe Mutter, ins Gleichgewicht mit deiner
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