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Sax

Sax

Titel: Sax
Autoren: Adolf Muschg
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Er legte ihr norddeutsch klingende Lieder in den Mund, aber eine «Lili Marleen» wurde nie mehr daraus, nicht mal: «Nach Regen scheint die Sonne».
When a Swiss boy goes calling for a Swiss miss in June

    Ein leises Lachen schüttelte sie; sie drehte sich um, und er sah Tränen in ihren Augen.
    Hast du mich auch nie für jüdisch gehalten, Moritz?
    Darüber habe ich nie nachgedacht.
    Du siehst aus wie der Löwe von Juda.
    Er griff sich an den Kopf und begegnete der gewohnten Mähne.
    Danke, daß du dein Haar geopfert hast, sagte sie. – Ich hätte das nie getan. Aber es wächst wieder nach, ganz schnell. Wie die Nägel. – Sie hielt ihm eine Hand hin.
    Dann möchte ich dir auch ein Bild zeigen, sagte er, damit du siehst, wie ich am liebsten ausgesehen hätte.
    Er griff in die Brust nach dem in Folie gepreßten Foto und reichte es Sidonie. Der junge Mann auf dem Bild hatte erkennbar jüdische Züge, rein, etwas weich. – Aber das bist du doch! sagte sie überrascht.
    Das war Herbert Baum, antwortete Moritz. – Der Kopf einer Gruppe junger Kommunisten in Berlin, die noch 1942 aktiv war. Daß sie Juden waren, bot ihnen eine Art Schutz, merkwürdigerweise. Es gab noch legale jüdische Organisationen, Fassadenreste eines Rechtsstaats. Baum benützte sie als Deckung für illegale Tätigkeit. Seine Eltern waren schon geflohen, er wollte die Stellung halten. Aber anderen half er bei der Ausreise, so meiner Mutter, die zu seinem Kreis gehörte. Sie kam in die Schweiz, mein Vater hatte sich zu einer Scheinheirat überreden lassen, weil sie eine entfernte Verwandte seiner Mutter war. Dabei haßte er Kommunisten. Aber diese war schön.
    Wie hieß sie?
    Rahel. Nach dem Krieg zog sie nach Israel. Dort hat sie den Namen geändert und sich später das Leben genommen. Kommunistin, Jecke und eine unglückliche Liebe, das war zuviel des Guten. Ich wurde von Vaters Mutter erzogen.
    Du hast Rahel nicht nachgeforscht? fragte sie.
    Ich hatte schon eine Mutter: die Partei, für die Herbert gestorben war, im Juni 1942, nach einem Anschlag auf Goebbels’ Ausstellung im Lustgarten: «Das Sowjetparadies». Sie versuchten sie niederzubrennen. Die Gestapo hat vierunddreißig junge Leute gefoltert und hingerichtet, auch seine Frau Marianne. Es hätten hundert werden können, wenn sie alle Namen herausbekommen hätten. Davor schützte sie Herbert durch Selbstmord in der Zelle.
    Diese Geschichte höre ich zum ersten Mal.
    Man erinnert sich an den Widerstand, aber an diesen nicht gern, nicht einmal in Israel. Meine Mutter muß das Gefühl gehabt haben, Herbert sei für nichts gestorben.
    Hat ihn dein Vater gekannt?
    Er wollte von der ganzen Geschichte nichts wissen.
    Moritz, sagte sie, warum hast du verschwiegen, wie lange du ihn gepflegt hast? Weil er nicht ins Heim wollte – Hubert hat es mir erzählt. Und ich dachte die ganze Zeit, du bist in London oder unterwegs.
    Er war mein Vater, sagte Moritz.
    Ist es wahr, daß er nicht mehr reden konnte?
    Er konnte reden, sagte Moritz. – Nur nicht mit mir. Er redete mit seinem Leben, und ich hörte zu. Er rechtfertigte sich nicht. Für seine Ehe hatte er teuer bezahlt, für mich auch. Seine Buchhaltung reichte bis 1950 zurück. Er hatte dem Kindermädchen immer fünfzig Rappen mehr mitgegeben, für meinen Himbeersirup.
    Und dafür hast du ihm drei Jahre den Hintern gewaschen. Und aufgehört zu politisieren.
    Keinen Augenblick, sagte er. – Mit ihm nie zu politisieren, das war meine Politik.
    Sie betrachtete das Bild in ihrer Hand, dann drehte sie es um. – Da ist er noch mal.
    Diesmal war es eine Zeichnung, exakt nach dem Foto auf der Rückseite. Doch war die Weichheit der Konturen einer markanten Härte des Strichs gewichen; kein Trauerfliegenschnäpper mehr; ein Revolutionär.
    Ein Selbstporträt, sagte Moritz.
    War er ein Künstler? fragte sie.
    Elektriker. Zwangsarbeiter bei Siemens, sehr musisch. Er hätte gern wie Majakowski ausgesehen. Unerschrocken zu sein, soviel schaffte er. Aber Rotfrontkämpfer mit geballter Faust, das schaffte er nicht. Weißt du, Sidonie …
    Er hatte ihren Namen kaum ausgesprochen, da war Gauls Stimme wieder da.
    Das ist kein Abriss Was für Menschen eine verbotene Liebe wäre, ist für die Materie der Rückbau, die zurückbuchstabierte Evolution. Was als Hildesheimers dritte Vermutung bekannt ist …
    Sidonie, sagte er. – Die Stimme brach ab.
    Ja? fragte sie
    Warum hast du Gift genommen?
    Ich erinnerte mich nicht mehr, sagte sie. – Ich war gar nicht immer
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