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Stossgebete - Ein Krimi aus dem Bayerischen Wald

Stossgebete - Ein Krimi aus dem Bayerischen Wald

Titel: Stossgebete - Ein Krimi aus dem Bayerischen Wald
Autoren: Wolf Schreiner
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    I rgendetwas hatte seinen Schlaf gestört. Ein Geräusch. Irgendwo bellte ein Hund. Dann wieder Stille. War er wach, oder träumte er? Baltasar Senner versuchte sich zu erinnern, was er geträumt hatte. Vergebens. Seine Sinne begannen, wieder normal zu arbeiten. Er spürte die Kühle des Zimmers in seinem Gesicht, roch kalte Asche und Baumharz, lauschte. Alles war ruhig. Noch einige Minuten regungslos liegen. An nichts denken. Die Nestwärme des Betts genießen. Ein bisschen dösen.
    Das Unterbewusstsein hinderte Baltasar daran, in Träume abzutauchen. Wie spät war es? Welcher Tag? Sein Gehirn rekonstruierte, dass es Sonntag sein musste. Arbeitstag. Baltasar seufzte. Er zwang sich, seine Augen zu öffnen. Das Grau des Morgens verwandelte die Gegenstände des Zimmers in Schemen und Schatten, er konnte seine Hose am Boden erkennen, neben dem Hemd und den Socken. Wie war er ins Bett gekommen? Der Kopf schmerzte. Mühsam richtete Baltasar sich auf. Es half nichts, er musste aufstehen. Mit den Zehen fischte er nach der Hose, hob sie auf und legte sie übers Bett. Er tastete sich mit wackligen Schritten über den Holzboden, als befürchtete er, auf einer Eisschicht einzubrechen.
    Die Morgenhygiene erledigte er wie in Trance, ein Schluck Orangensaft aus dem Kühlschrank, das Frühstück musste warten. Baltasar schloss die Haustüre hinter sich, hielt einen Moment inne und sog die Luft ein. Der Herbst meldete sich im Bayerischen Wald mit dem Geruch von frischem Laub und Moos. Baltasar mochte diesen Geruch, diese einzigartige Würze, die nur die Berge entlang der Grenze hervorbrachten.
    Noch dazu diese Stille. Das Schweben zwischen Nacht und Tag, als hielte die Natur den Atem an. Ein Zustand, in dem die Welt noch zu schlafen schien. Keine leise Radiomusik hinter den Vorhängen der Nachbarn, kein Brummen von Automotoren, nicht einmal das sonst übliche Rattern der Melkmaschinen aus den Ställen war zu hören. Stattdessen eine Ruhe, die Baltasar wie ein Geschenk des Himmels erschien, selten und kostbar.
    Er ging die paar Schritte hinüber zur Kirche. Der Altarraum lag im Halbdunkel, nur die Jesusfigur am Kreuz erstrahlte bereits im Morgenlicht und verlieh dem Ort etwas Mystisches. Baltasar bewunderte die Kunst der alten Baumeister, die Gebäude und Kirchenfenster so geschickt angeordnet hatten, um diesen dramatischen Effekt zu erzeugen, der auch nach Jahrhunderten seine Wirkung nicht verfehlte. Zumindest für diejenigen, die es tatsächlich in aller Herrgottsfrühe in die Kirche schafften.
    Baltasar zündete die Kerzen an, überprüfte die Weihwasserkessel, legte die Gesangbücher aus. Er setzte sich in die erste Reihe und ließ die Altarszene auf sich wirken, das Kruzifix, den Tabernakel auf dem Altar, umfasst von Marmorsäulen und überkrönt von einem Gemälde, das Christi Himmelfahrt darstellte. Das Arrangement, seit Ewigkeiten bewährt, war eine Einladung an den Betrachter, sich Zeit zu nehmen und sich unvoreingenommen in die Szene zu versenken. Eine Meditation. Eine Übung im Sehen und Fühlen. Eine Prüfung im Glauben. Baltasar pflegte den Glauben auf seine ganz persönliche Weise auszulegen. Ebenso hatte er eine persönliche Auffassung von Genuss und Sünde und Vergebung. Gott hatte die Freuden des Daseins in die Welt gebracht. Wer sich diesen Freuden verschloss, verschloss sich der Gnade Gottes. Und die Sünde wurde einem am Ende vergeben. Meistens jedenfalls.
    Dem Idealbild eines katholischen Pfarrers entsprach Baltasar gewiss nicht, das wusste er. Nicht bloß, weil er sich zu diesem Beruf erst spät entschieden hatte. Er hatte auch einen eigenen Kopf. Seine Vorstellung von Gerechtigkeit etwa besagte, dass Menschen darauf nicht bis zum Jüngsten Tag warten sollten. Vielmehr musste jemand im Zweifel nachhelfen – und wenn es Hochwürden höchstpersönlich war. Baltasar dachte daran, wie seine Neugierde ihn in der Vergangenheit schon mehrmals in brenzlige Situationen gebracht hatte.
    Andere Schwächen, wie die Leidenschaft fürs Essen und Trinken, konnte man in diesem Amt gut verbergen. Bei Hochzeiten, Taufen und beim Leichenschmaus gebot es schon die Höflichkeit, eine Einladung ins Wirtshaus anzunehmen. Vor allem, wenn es sich um die Gaststätte einer gewissen Frau handelte …
    Das Knarren des Kirchenportals ließ ihn herumfahren. Eine Gestalt huschte herein, drückte sich an der Wand entlang. Baltasar rührte sich nicht. Hatte die Person ihn bemerkt? Die Meldung aus der Nachbarpfarrei von letzter Woche kam ihm
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