Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stossgebete - Ein Krimi aus dem Bayerischen Wald

Stossgebete - Ein Krimi aus dem Bayerischen Wald

Titel: Stossgebete - Ein Krimi aus dem Bayerischen Wald
Autoren: Wolf Schreiner
Vom Netzwerk:
er sich eigentlich aufrichten und die Arme heben müsste. Stattdessen starrte Baltasar auf die Hostie, als erwarte er von dort die Ankunft des Jüngsten Gerichts. Sie war weiß wie der Menschenknochen, den der Junge gebracht hatte. Was hatte der makabre Fund zu bedeuten? Es war keine Gelegenheit mehr gewesen, Sebastian zur Rede zu stellen, die Messe hätte längst beginnen sollen. Der menschliche Unterkiefer lag noch auf dem Tisch in der Sakristei, Baltasar hatte in der Eile nicht gewusst, wohin damit. Wo war der dazugehörige Schädel, wo das Skelett? Baltasar schüttelte sich. Er blickte vom Altar auf und sah in die Kirche.
    Der Raum war nur zur Hälfte gefüllt. Die Besucher drängten sich in den vorderen Bänken, ihre Gesichter spiegelten Ratlosigkeit, einige unterdrückten ein Gähnen oder vertieften sich in ihr Gesangbuch. Nun denn – er hatte einen Job zu erledigen. Doch Baltasar konnte sich nicht darauf konzentrieren, weil ihm das Bild des Knochens ständig vor Augen stand. Er nahm die Schale mit der Hostie und hob sie hoch.
    »Er hat sterbend die Arme ausgebreitet am Holze des Kreuzes.
    Er hat die Macht des Todes gebrochen und die Auferstehung kundgetan.«
    Die Hostie hielt er in beiden Händen. Er machte eine Kniebeuge und stellte die Schale auf das Korporale, während alle Augen auf ihm ruhten. Immer noch funktionierte dieses uralte Ritual, ein Zauber, der die Zuschauer jedes Mal aufs Neue in seinen Bann zog, obwohl jeder den Ablauf kannte. Eigentlich war es nur eine Oblate, ähnlich der, die Hausfrauen in der Küche verwendeten. Durch die kirchliche Weihe jedoch verwandelte sie sich in ein Symbol für das Leben und das Sterben – und die Wiederauferstehung. Das Sakrament des Abendmahls. Baltasar brach die Hostie in der Mitte auseinander und hielt inne. Er legte sich die Oblate auf die Zunge, schloss den Mund. Auch wenn die Katholiken glaubten, dass sich das Brot in diesem Moment in den Leib Christi verwandelte, fühlte Baltasar sich jedes Mal – der Herr möge ihm verzeihen – ans Plätzchenbacken seiner Mutter zu Weihnachten erinnert, an den Geruch von Rumaroma und gemahlenen Haselnüssen, an den Geschmack des Teiges, nachdem er heimlich seinen Finger in die Schüssel getaucht hatte.
    »Nehmt und esst alle davon:
    Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird.«
    Zu welchem Leib mochte der Knochen gehören? Stammte er aus einem Grab? Baltasar nahm sich vor, der Sache auf den Grund zu gehen. Der Fund ließ ihm keine Ruhe. Er drehte sich zu Sebastian, der neben ihm mit dem Weihrauchkessel stand. Ihre Blicke trafen sich. Der Bub schien zu erschrecken, er schwenkte das Turibulum, eine Verlegenheitsgeste, und der Rauch verteilte sich. Baltasar sog die Luft ein. Wunderbar! Diese Würze. Weihrauch zu inhalieren begeisterte ihn immer wieder aufs Neue, vor allem, wenn er ihn mit besonderen Zutaten aufgepeppt hatte. Es half nichts, die Pflicht rief. Baltasar straffte sich und füllte Wein in den Kelch.
    »Gedenke aller, die entschlafen sind in der Hoffnung, dass sie auferstehen,
    nimm alle, die in deiner Gnade aus dieser Welt geschieden sind, in dein Reich auf.«
    Er nahm einen Schluck und rollte ihn unauffällig im Mund. Den Wein hatte er sich aus einem Kloster im Badischen kommen lassen, ein Trollinger. Ein Hauch von Kardamom, eine Ahnung von Zimt und Beeren. Ausgewogenes Bouquet. Baltasar musste sich beherrschen, nicht noch einen zweiten Schluck zu probieren. Er forderte die Kirchenbesucher auf, nach vorne zu kommen.
    »Nehmt und trinkt alle daraus:
    Das ist mein Blut, das für euch und für alle vergossen wird
    zur Vergebung der Sünden.«
    Der Bürgermeister und seine Frau knieten vor ihm nieder. Für einen Moment genoss Baltasar diese Demutshaltung der Lokalprominenz, gerade bei Personen wie Xaver Wohlrab, die in dienstlichen Dingen oft sehr herrisch auftraten. Das Amt des Pfarrers zählte eben noch etwas im Bayerischen Wald. Die Leute erwiesen ihm Respekt und demonstrierten dabei gerne, dass sie gute Christen waren, genauer gesagt, gute Katholiken, eine andere Religion zählte nicht in diesem Landstrich. Was bigottes Verhalten nicht ausschloss, im Gegenteil. Er erinnerte sich an die Aufzeichnungen des königlich-bayrischen Beamten Joseph von Hazzi aus dem 19. Jahrhundert, wohl die erste zusammenfassende Dokumentation über die Gegend: »Den Rosenkranz, das Amulett, das Weihwasser und anderes verehrt man als Heiligtümer, überall stößt man auf Bilder, Figuren und andere Zeichen von
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher