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Der Tod meiner Mutter

Der Tod meiner Mutter

Titel: Der Tod meiner Mutter
Autoren: Georg Diez
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    Sie wirkte wackelig auf ihren drei roten Kissen. Sie war auf ihrem Stuhl etwas nach vorne gesunken und ich war nicht sicher,
     ob sie zur Seite kippen würde. Sie schob ihre Gabel ziellos auf dem Teller herum, den Fisch von der einen Seite auf die andere,
     ein Stück Brokkoli von links nach rechts und den Tellerrand hoch. Früher machte mich das auf eine Art wütend, über die ich
     mich selbst ärgerte; heute machte es mich auf eine Art traurig, die ich seltsam tröstlich fand.
    Meine Mutter war an diesem Tag nur mit Mühe aus dem Bett gekommen, und als ich die Wohnung betrat, die Tüte mit dem Essen
     in der Hand, stand Silvia neben ihr, die Pflegerin, die sie mochte, so wie sie manche Menschen mochte, sofort und bedingungslos,
     so wie sie manche Menschen nicht mochte, entschieden und nicht immer ohne Grund. Meine Mutter saß am Tisch im Wohnzimmer,
     sie hatte ihre Perücke auf, die Sonne schien aus dem Garten hell herein, meine Mutter war im Gegenlicht nur als Umriss zu
     sehen, Silvia beugte sich zu ihr herunter und sagte etwas, meine Mutter antwortete und drehte den Kopf zu mir und ihre Augen
     leuchteten.
    Vielleicht will ich mich auch nur so an diesen Moment erinnern. Vielleicht saß sie gar nicht am Tisch.Vielleicht lag sie im
     Bett, als ich kam, in ihre wattierte schwarze Jacke gewickelt, die sie fast nie mehr auszog in den letzten Monaten, die rote
     Bettdecke weggeschoben, im Zimmer tote Luft. Sie hatte den Kopf zur Seite gedreht, sie starrte an die weiße Wand oder auf
     das Bild, das schräg über ihr hing, ein Poster von Miró, auf dem vor einem tiefschwarzen Hintergrund ein Wal zu sehen ist,
     der senkrecht nach oben zu schwimmen scheint. Dünn ist dieser Wal und schmal, fast wirkt es, als ob er schwebt, als sei er
     schon fort.
    Vielleicht war sie auch auf der Toilette, als ich kam, und durch die Tür waren nur die wütenden Worte zu hören, mit denen
     sie sich gegen das wehrte, was sie so verzweifeln ließ, die Abhängigkeit, die körperliche Abhängigkeit, die Unfreiheit, die
     mit der Krankheit kam.
    Vielleicht hatte sie auch gerade mit einer ihrer Freundinnen telefoniert und ihr gesagt, dass niemand sie verstehe und ihr
     Sohn schon gar nicht, oder sie hatte ihr gesagt, dass nur ihr Sohn sie verstehe und sonst niemand.
    Vielleicht hatte sie einfach zu lange gewartet, bis ich kam.

    Es waren traurige, es waren schöne, es waren Abschiedstage, jedes Mal, wenn ich da war, jedes Mal, wenn ich sie sah, wie sie
     im Sommer und auch noch im Herbst auf ihrer Terrasse saß, auf ihrem Holzstuhl, mit vielenKissen und zwei Decken, auf dem Kopf einen Hut und meistens eine Sonnenbrille im Gesicht – es wirkte so, als habe sie nicht
     eine Stunde oder zwei dort gesessen, sondern Tage, Wochen, ihr ganzes Leben lang, auf dieser Terrasse in dem Garten, den sie
     so mochte. Die hohen Rosen, die vielen Blumen, deren Namen ich nicht kannte, die Büsche und der Baum, den der Sturm vor ein
     paar Monaten entwurzelt und den ein Gärtner mit einem Holzgestell fixiert hatte. Ich hatte den Gärtner angerufen, ich hatte
     ihn bezahlt, ich hatte das Gefühl, dass ich etwas getan hatte, das sie freute, das blieb, das sie an mich denken ließ, wenn
     ich weg war, wenn sie noch da war, wenn sie diesen Baum sah, der nun wieder gerade stand und hielt, es war wohl ein Lorbeerbaum.
     Jedes Mal erschrak ich, wenn ich sie dort sitzen sah, denn jedes Mal wusste ich, dass ich sie bald verlieren würde.
    Und was kann man schon machen mit so einem Gefühl.
    Der Tod schlich sich langsam in mein Leben in diesen Wochen und Monaten, der Tod, der schon so lange um meine Mutter war,
     als Krankheit, als Krebs, aber immer nur als Ahnung, nie als Realität. Merkwürdig war, wie der Tod in dieser Zeit eine sanfte
     Klarheit bekam und trotzdem nur vorsichtig seine Macht entfaltete.
    Und merkwürdig war auch, dass meine Mutter immer schöner wurde in dieser Zeit. Ihr Gesicht hatte so weiche, entspannte Züge,
     wie ich es selten bei ihr gesehen hatte, wie ein Kind erschien sie mir. Ihre Augen warenvoll Ruhe und Traurigkeit, sie erzählten von ihrer Einsamkeit und den Schrecken der Krankheit, und als sie aufgehört hatte
     zu kämpfen, sah ich in ihren Augen eine neue Gelassenheit, die fast wie Vertrauen wirkte. Sie trug ihre kurzen babyweichen
     Haare, die seit der Chemotherapie nachgewachsen waren, mit stolzer Würde. Sie waren grau, diese Haare, nicht rot, wie meine
     Mutter sie sich all die Jahre gefärbt hatte, seit ihrer
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