Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Tod meiner Mutter

Der Tod meiner Mutter

Titel: Der Tod meiner Mutter
Autoren: Georg Diez
Vom Netzwerk:
eigenen Leben zu finden. »Verlass deinen Mann«, sagte sie ihren
     Freundinnen,die über ihre Ehe klagten, sie hatte es ja auch getan, sie hatte ihren Mann verlassen, und wenn ihre Freundinnen in der Ehe
     blieben, war sie enttäuscht. »Die führen eine total verlogene Beziehung«, wie oft habe ich diesen Satz gehört.
    In den siebziger Jahren gründete sie eine Gruppe, um die Frauen feministisch wachzurütteln. Eine Weile ging das gut, sie redeten
     über das Kochen und den Haushalt und die Arbeit. Als es dann aber auch um Sex ging und andere intime Dinge, kamen immer weniger
     Frauen und die Gruppe zerbrach. Offenheit hat Grenzen, und es schien nur so, als wollte meine Mutter das nicht akzeptieren.
    Tatsächlich verhielt sie sich manchmal selbst nicht anders. Ihren Eltern und vor allem ihrer Mutter gegenüber etwa war sie
     hart und unnachgiebig, es schwebte etwas Dunkles über dieser Familie, wenn sie davon erzählte. Und erst nach ihrem Tod habe
     ich verstanden, wie vage das war, was sie sagte, wie wenig sie wirklich hatte wissen wollen, bei all dem Drang nach Wahrheit.
     Sie war in gewisser Weise weggelaufen vor diesem Elternhaus, so wie ihre vier Geschwister auch geflohen waren, sie hatte sich,
     das blieb ein Muster in dieser Familie, in eine frühe Ehe zu retten versucht, mit all den Beschädigungen, die das brachte.
     Natürlich hatte sie viel darüber geredet, in der Therapie und auch mit Freunden. Aber die einfachen Fragen, das sagte sie
     selbst einmal, die hatte sie nicht gestellt.
    Ihr Vater zum Beispiel, der während des Krieges den Kohlehafen der saarländischen Stahlfirma Röchling in Bremen leitete –
     konnte es wirklich sein, dass ihr Vaterin so einer kriegswichtigen Position nicht in der NSDAP war, wie ihre Mutter immer behauptet hatte?
    Warum hatte sie nie danach gefragt? Sie schaute nach vorne, damals schon; sie wollte sich nicht mit etwas beschäftigen, das
     sie aufhielt.

    Ich maß die Zeit, die sie brauchte, bis sie zur Tür kam und öffnete. Ich stand da und wartete. Manchmal habe ich mich beeilt
     auf dem Weg zu ihr und manchmal auch nicht. Manchmal habe ich mein Gepäck zu meinem Freund Daniel gebracht, wenn ich aus Berlin
     kam, manchmal bin ich direkt zu ihr gefahren. Meistens habe ich mir am Flughafen als Erstes eine Butterbreze gekauft, weil
     das zu München gehörte und zu meiner Erinnerung an Kindheit.
    Ich lief durch den Hof, ich klingelte an der Haustür und versuchte, aus den Minuten, die meine Mutter brauchte, um bis zur
     Wohnungstür zu kommen, etwas darüber zu erfahren, wie es ihr ging. Wie lange es noch dauern würde. Immer mit ein bisschen
     Angst und dann immer mit ein bisschen Erleichterung. Es summte, die Haustür öffnete sich und meine Mutter streckte den Kopf
     aus der Wohnungstür, hinten im Flur, um zu sehen, wer da war.
    Früher mochte ich das nicht, dieses Kopf-aus-der-Tür-Strecken. Jetzt mochte ich das sehr. Sie war noch da, das zeigte diese
     Geste, sie war noch am Leben. Und je länger es dauerte, desto mehr verstand ich, wie wenig darauf Verlass war.
    Ich küsste sie auf die Wange, die etwas kalt war undzugleich etwas verschwitzt. Sie schaute mich an und sagte: »Schön, dass du da bist«, was ein wenig so klang wie: »Du bist
     aber groß geworden.« Dann schaute sie mich noch einen Moment länger an als nötig und drehte sich um, stützte sich am Schrank
     ab und an dem Stuhl, den sie dafür in den Flur gestellt hatte, sie hielt sich am Griff der Wohnzimmertür fest und ging etwas
     schlingernd, aber mit schnellen Schritten zu ihrem Stuhl am Tisch, am Fenster. Mit einem Seufzer ließ sie sich auf den Stuhl
     fallen.
    Ich zog meine Jacke aus und stellte meine Reisetasche ab und mit ihr mein schlechtes Gewissen.
    »Du bist so viel unterwegs und so wenig hier.« Nie hat meine Mutter das zu mir gesagt. Warum dachte ich das so oft?
    Ich ging als Erstes zum Fenster, um es zu öffnen. Es war fast ein Reflex, es hatte nichts damit zu tun, dass die Luft stickig
     war und die Heizung weit aufgedreht. Aber wahrscheinlich musste es meiner Mutter so erscheinen. Gerade Kleinigkeiten empfand
     sie manchmal als grundsätzliche Kritik an ihrem Leben.
    Auf dem Tisch standen eine Vase mit roten Blumen und eine rote Schale, in der sie die Post sammelte. Daneben lagen mehrere
     rote Stifte und ein kleiner Stapel Papier, das auf einer Seite bedruckt war und auf einer nicht, weil sie alte Briefe oder
     Faxe oder Fortbildungsunterlagen nahm und sie zweimal zerriss und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher