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Der Tod meiner Mutter

Der Tod meiner Mutter

Titel: Der Tod meiner Mutter
Autoren: Georg Diez
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immer ab«, sagte sie, als wir vorne an der Ecke standen, vor dem Gasthaus Rumpler, wo wir manchmal
     im Sommer in der Sonne gesessen und Schweinebraten oder Käsespätzle gegessen hatten. Ich beugte mich zu ihr vor, um zu hören,
     ob sie noch etwas sagte. Aber sie schaute nur.
    Ich schob sie weiter, an dem kleinen Park entlang, mit dem Spielplatz in der Mitte. Ich machte vorsichtig Schritt um Schritt.
     Ich wusste, dass ich mich an das erinnern wollte, was jetzt war.
    »Halt mal«, sagte sie. Wir waren an dem Spielplatz angekommen, und eine Weile schaute sie den Kindern zu, die zwischen den
     Bäumen hin und her rannten und deren Stimmen so hell klangen und so traurig an diesem Tag. Normalerweise hätte sie jetzt etwas
     gesagt, zum Beispiel, dass ich als Kind auf dem Spielplatz immer Sand gegessen hatte und dass sie das gut fand, weil Sandden Magen reinigt, und ich hätte gedacht, ja, ich weiß schon, das ist das, was von der antiautoritären Erziehung übrig bleibt,
     eine Erinnerung. Und ich hätte sie angeschaut wie eine Frau, die meine Mutter war und auch jemand anderes.
    Heute schwieg sie. Es war ja auch alles gesagt.
    »Weiter?«, fragte ich irgendwann.
    Sie nickte.
    Wir kamen an den Bach, der durch das Viertel fließt, die meiste Zeit verborgen unter Häusern, Straßen, Beton und nur selten
     an der Oberfläche.
    »Die Leute denken immer, das ist der Glockenbach«, sagte sie, als wir an der Brücke standen, die über den Bach führte zur
     Pestalozzistraße, wo sie einmal gearbeitet hatte, wo sie eine Familienberatungsstelle geleitet hatte, ein halbes Leben schien
     das her. »Nur weil das hier das Glockenbachviertel ist. Dabei ist das der Westermühlbach.«
    Es war wie Sonne, die durch Wolken bricht. Augenblicke von Klarheit, die schöne Geschenke waren in all der Verwirrtheit, die
     sie fortgenommen hatte in ein Reich aus Watte, Angst und verstreuten Gedanken. Meistens war es erschreckend, wenn sie verschwand;
     manchmal war es auch komisch. Und wenn sie wieder auftauchte, war ich zwar erleichtert, merkte aber, wie sehr ich sie schon
     verloren hatte.
    Wir schauten von der Brücke auf das Wasser unter uns. Hell war es und ging dahin. Meine Mutter hob den Kopf. Von der anderen
     Seite des Baches kam einejunge Frau auf uns zu, mit einem Fahrrad und einem Kindersitz, in dem ein Mädchen saß mit langen brauen Haaren. Die Frau
     lächelte uns an, meine Mutter lächelte zurück. Ich kannte die Frau, wir hatten gemeinsame Freunde, und so unterhielten wir
     uns kurz. Als wir uns verabschiedeten, merkte ich, wie das Lächeln meiner Mutter an dem Mädchen hängen blieb.
    »Ich weiß schon, ich weiß schon«, sagte sie, als die beiden über die Brücke gegangen waren, »die treffen wir immer an dieser
     Stelle.«
    »Was meinst du denn genau damit? An dieser Stelle?«
    »Na immer an dieser Stelle.«
    »Du meinst, dass sich alles wiederholt?«
    »Das hast jetzt du gesagt. Komm, fahr mich weiter.«

    Ich weiß nicht, ob wir immer so waren. So hilflos, wenn es darum ging, die Distanz zu überwinden, die wir um uns hielten.
     So vorsichtig, wenn es darum ging, die Dinge zu benennen, die uns wichtig waren. So fremd, wo wir einander doch eigentlich
     die nächsten Menschen waren. Es ist seltsam. Im Grunde weiß ich erst, seit ich eine Tochter habe, wie sich Familie anfühlt.
    Meine Mutter hatte Familie immer mit großer Skepsis betrachtet, als etwas, von dem man sich frei machen sollte, und nicht
     etwas, das einen trägt. Familie, das hatte sie in ihrem Beruf als Therapeutin oft genug gesehen, war ein Nest, in dem die
     Lügen wachsen. Dass es auch anders sein konnte, hatte sie nie erfahren. Ihre eigeneFamiliengeschichte und die Geschichte ihrer Ehe blieben für sie der Beweis, dass Unabhängigkeit einen am ehesten davor schützt,
     vom Leben verletzt zu werden. Stärke war darum für sie überlebenswichtig. Als sie schwach wurde, war der Tod eine doppelte
     Bedrohung und in gewisser Weise sogar eine persönliche Beleidigung.
    Aber sie lernte, mit dieser Kränkung zu leben, sie anzunehmen, so wie sie auch annehmen konnte, dass ich sie durch ihr Stadtviertel
     schob, in einem Rollstuhl, mit einer rosa Fellmütze auf dem Kopf, die ich ihr vor ein paar Wochen zum 71. Geburtstag geschenkt
     hatte und die sie sich nicht mehr selbst aufsetzen konnte und nur dreimal trug in ihrem Leben. Das war das Vertrauen, das
     sie gewann, das war eine Ergebenheit, die nichts mit Glauben zu tun hatte. Sie hatte akzeptiert, dass sich unsere
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