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Der Tod meiner Mutter

Der Tod meiner Mutter

Titel: Der Tod meiner Mutter
Autoren: Georg Diez
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Scheidung, seit ihrer Unabhängigkeit, hennarot.
    Sie hatte sich eine Perücke gekauft, als die Haare anfingen auszufallen, die Perücke stand ihr gut, sie trug sie gern. Und
     wenn sie sich die Perücke vom Kopf zog, dann lächelte sie, wie ein Mädchen, das etwas getan hat, was ihre Eltern nicht wissen
     sollen.
    Der nahe Tod hatte sie schöner gemacht und jünger.

    Es dauerte ein wenig, bis wir so weit waren. Ich hielt sie an der Hand, sie ging mit langsamen, zögernden Schritten in den
     Flur, wo sie sich auf den durchsichtigen Stuhl aus Plexiglas setzte und erschöpft ausatmete. Wie dünn sie war; und wie schwach.
     Ich zog ihr den Mantel an und kniete mich vor sie hin, um ihr die Hausschuhe auszuziehen. Sie hob kurz die Füße, die sich
     leicht anfühlten. Ich zog ihr die Straßenschuhe an und suchte oben auf dem hellen Bauernschrank nach Handschuhen, fand aber
     keine.
    Der Rollstuhl stand vor der Wohnungstür. Seit zwölf Jahren lebte sie hier. Eine kleine Wohnung mit zwei Zimmern und einem
     Garten, mitten in München.
    »Hier will ich sterben«, hatte sie immer wieder gesagt, »und nicht in einem Krankenhaus, mit Schläuchen im Arm und all dem
     anderen. Ich will daheim sterben, versprich mir, dass du dafür sorgst.«
    Ich versprach es ihr, obwohl ich nicht sicher war, dass ich das Versprechen halten konnte. Und obwohl ich noch nicht verstand,
     was es bedeutet, daheim zu sterben. Oder überhaupt, sterben.
    Als ich sie nun über den Hof schob, ihre rosa Fellmütze fast heiter auf dem Kopf und über dem Schoß eine Wolldecke, unter
     der ich ihre Hände verpackt hatte, schaute sie hinauf in den blauen Himmel.
    »Föhn«, sagte ich.
    »Das ist kein Föhn«, sagte sie.
    Da tauchte weit oben ein Flugzeug auf. Meine Mutter lachte, es war ein helles Gurgeln.
    »Immer an dieser Stelle fliegt das Flugzeug durchs Bild.«
    Ich wollte etwas sagen. Sie drehte sich um zu mir.
    »Und immer an dieser Stelle schaust du so.«
    »Wie schaue ich denn?«
    »Das sagst du auch immer.«
    »An dieser Stelle?«
    »Natürlich an dieser Stelle. Das ist alles so lustig.«
    »Was ist so lustig?«
    »Ach, frag nicht so doof.«
    Ich schwieg. Es hatte eine Weile gedauert, bis ich akzeptiert hatte, dass sie ihre Wahrheit hatte, die nur am Rande mit meiner
     zu tun hatte.
    »Wohin willst du?«, fragte ich sie, als wir auf der Straße standen. Sie war schon länger nicht mehr mit dem Rollstuhl draußen
     gewesen, und die Unsicherheit, die sie seit dem Sommer gespürt hatte, war einer Art von Paranoia gewichen, die ich mir damit
     erklärte, dass meine Mutter merkte, wie ihr da jemand ihr Leben stehlen wollte. Wie es langsam eng wurde. Wie sie immer abhängiger
     wurde, von anderen und von mir.
    Wohin ich wollte, wusste ich. Ich wollte zu dem Kinderladen in der Hans-Sachs-Straße. Als ich meiner Mutter im Mai erzählt
     hatte, dass meine Frau schwanger ist, hatte sie gesagt: »Dann kann ich ja noch gar nicht sterben.« Ich wollte, dass wir Kleider
     kaufen für das Kind, das sie nicht mehr sehen würde.
    »Lass uns eine kleine Runde durchs Viertel machen«, sagte sie, und wir bogen nach rechts ab, vorbei an dem kleinen Zeitschriftenladen
     und vorbei an dem Schmuckatelier, in dem ich nie jemanden arbeiten sah, durch diese Straße, die ihre war, durch die Jahnstraße.
     Es gibt hier einen Metallbetrieb, mit einer breiten Einfahrt und einem Schiebetor, so schwer, dass es zwischen all den Blumenläden
     und Restaurants fast brutal wirkt; es gibt das griechische Restaurant Anti, wo im Dunkeln Figuren hocken wie aus Fassbinders
     Film »Katzelmacher«; es gibt an der Ecke die Chocolaterie, wo in der Sonne junge Väter und Mütter sitzen, ihren Kaffee trinken
     und ihre Kinder bewundern; es gibt das Restaurant Cooperativa, wo Studenten sich über ihre Freiheit ohne Kinder freuen. Und
     es gibt, genau gegenüber vom Haus meinerMutter, einen Neubau, der sich bis vor zur Ecke zieht, das Altersheim Tertianum mit einem Restaurant, das Rosenkavalier heißt.
    »Ich liebe dieses Viertel«, sagte sie, wie so oft. Sie sagte es, um sich aufzumuntern, sie sagte es, um sich anzutreiben.
     Es klang wie: »Wer hätte das gedacht?« Oder wie: »Toll, dass ich das geschafft habe.« Oder wie: »Halt, muss ich wirklich schon
     gehen?« Es klang wie der Schlussstrich unter ihr Leben, und es schien sie zu freuen, dass dieses Leben im Glockenbachviertel
     in München enden würde. Zu Hause und nicht im Tertianum oder im Krankenhaus.
    »An dieser Stelle biegen wir
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