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Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Titel: Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
Autoren: Michail Gorbatschow
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Prolog
    Aus dem Tagebuch
    21 . September 2000
    Ein Jahr ohne Raissa. Wir, die Angehörigen und enge Freunde, haben uns heute versammelt, um den Grabstein zu enthüllen. Er stammt von dem Bildhauer Friedrich Sogojan. Eine farbige Marmorplatte – wie ein blühendes Feld. Große Steine. Die Inschrift: »Raissa Maximowna Gorbatschowa. 5 . Januar  1932 – 20 . September  1999 «. Die Gestalt einer jungen Frau, die Raissa sehr ähnlich sieht. Sie bückt sich, um Feldblumen auf die Grabplatte zu legen.
    Ein Jahr ist vergangen, das allerschwerste vielleicht. Mein Leben hatte seinen eigentlichen Sinn verloren. Ich brauchte Monate, um zu mir zu kommen. Was mich gerettet hat, ist die Nähe zu meiner Tochter Irina, meinen Enkelinnen Xenia und Anastasia sowie Freunde.
    Nach Raissas Tod stellte ich für einige Monate meine Reisen und öffentlichen Auftritte ein. Ich verbrachte die ganze Zeit auf meiner Datscha. Nie zuvor habe ich mich so furchtbar einsam gefühlt. Fast fünfzig Jahre waren Raissa und ich zusammen, einer an der Seite des anderen, und nie haben wir das als Last empfunden, im Gegenteil: Es ging uns immer gut zu zweit. Wir liebten uns, obwohl wir auch unter vier Augen nicht groß darüber sprachen. Die Hauptsache war: Wir wollten all das bewahren, was uns in unserer Jugend zusammengebracht hatte. Wir verstanden uns und hüteten unsere Beziehung.
    Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich schuld bin an Raissas Tod. Ich rufe mir alles ins Gedächtnis zurück, um herauszufinden, wie es möglich war, dass ich sie nicht habe retten können. Ich habe gesehen, wie sehr ihr die Ereignisse der letzten Zeit zusetzten: Wie konnte es geschehen, dass unanständige, gewissen- und verantwortungslose Menschen in unserem Land die Oberhand gewonnen hatten? Raissa kam ständig auf dieses Thema zu sprechen, und wenn ich ihr vorhielt, man könne nicht die ganze Zeit an ein und dasselbe denken, zog sie sich in ihr Schneckenhaus zurück und schwieg. Sie tat mir leid. Es quälte mich, dass sie litt.
    Immer wieder kommt mir die Erinnerung an die letzte Nacht, die sie lebte, die Nacht vom 19 . auf den 20 . September. Raissa starb am 20 . September 1999 , um 2  Uhr  57 . Sie starb ohne Schmerzen, lag im Koma. Wir konnten einander nichts zum Abschied sagen. Sie starb zwei Tage vor der geplanten Stammzellentransplantation aus dem Rückenmark ihrer Schwester Ljudmila – fünf Tage vor dem 46 . Jahrestag unserer standesamtlichen Trauung in Moskau.
    Bis zum Ende glaubte ich an ihre Rettung und konnte das Geschehene lange nicht fassen. Hilflos und verstört standen Irina und ich an ihrem Bett: »Geh nicht fort, Sacharka. [1] Hörst du?« Ich ergriff ihre Hände in der Hoffnung, sie würde mir vielleicht mit einem Händedruck antworten. Raissa schwieg – sie war tot.
    Vor der Krankheit hatten Raissa und ich wiederholt über unsere Zukunft gesprochen. Einmal hörte ich von ihr: »Ich möchte nicht ohne dich zurückbleiben. Das ist kein Leben für mich. Du, du heiratest dann eben und lebst weiter.« Ich war erschüttert darüber, was ihr durch den Kopf ging. »Was redest du?! Wie kommst du darauf? Wieso sprichst du vom Tod? Du bist jung, schau dich im Spiegel an. Hör, was die Leute sagen. Du bist einfach müde!«
    »Ich will keine alte Frau sein«, sagte sie oft. Als dann die Enkel kamen, musste entschieden werden, wie sie uns beide anreden sollten. Sie wollte »Babulja« genannt werden. »Babuschka, das klingt so klapprig, aber Babulja, da steckt doch Energie drin!« So war sie eben …
    Raissa mochte den Spruch vom Alter einer Frau: »Kind, Mädchen, junge Frau, junge Frau, junge Frau, junge Frau – eine alte Frau ist eine tote Frau.«
    In den letzten Jahren unseres Zusammenlebens träumte sie oft davon, dass einer von uns stirbt. Immer häufiger merkte ich, dass sie Angst hatte. Manchmal sagte sie: »Lass uns weniger reisen.« Es fiel ihr zunehmend schwer, weite Reisen mit mir zu unternehmen. Doch wie ich an ihren traurigen Augen ablas, fiel es ihr noch schwerer, allein zurückzubleiben.
    In jener Nacht standen Irina und ich an ihrem Bett. Wir weinten und konnten nichts mehr machen.
    5 . Januar 2001
    Raissas Geburtstag. Sie wäre 69  Jahre alt geworden. In unseren Gesprächen über die Zukunft hat sie oft gesagt: »Wenn ich bis zum Anbruch des neuen Jahrhunderts und Jahrtausends leben würde, wäre das vollkommen ausreichend.« Sie hat dieses Ziel um drei Monate verfehlt. Dabei hatten wir einen Plan: Wir wollten das Jahr 2000
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