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Der Tod meiner Mutter

Der Tod meiner Mutter

Titel: Der Tod meiner Mutter
Autoren: Georg Diez
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daraus Notizzettel machte. Außerdem standen zwei oder drei
     Gläser mit Wasser da, und an dem weißlichen Randkonnte ich sehen, dass sie wieder lange nichts getrunken hatte. Neben der Wasserflasche stapelten sich die Zeitungen.
    Ich räumte die Zeitungen auf einen Stuhl und berührte dabei meine Mutter kurz an der Schulter. Ich wusste, dass sie nicht
     wollte, dass ich sie wegwerfe. Es hatte eine Weile gedauert, bis ich verstand, was diese Zeitungen für sie bedeuteten. Wie
     sie sich an die Vorstellung klammerte, die mit diesen Zeitungen jeden Tag in ihre Wohnung kam. Die Welt draußen, die gesunde
     Zeit, der Alltag, das Dazugehören, das Wissen, der Witz. Und immer auch der Druck, die traurige Ahnung, dass vergangen war,
     was auch immer gewesen war.
    »Willst du die wirklich aufheben«, frage ich sie, »die sind doch schon angegilbt. Die sind drei Wochen alt.«
    »Schorsch, lass mich doch.«
    »Aber die fallen hier vom Stuhl. Kann ich sie wenigstens auf den kleinen Tisch dort drüben räumen?«
    »Lass sie hier. Da komme ich nicht ran.«
    »Aber du liest sie doch eh nicht mehr.«
    Schweigen.
    Ich stand auf und ging in die Küche. Es war die Zeit, die sie zählte, die sie maß, und jeder Tag, an dem eine Zeitung kam,
     war ein kleiner Sieg. Ich hörte das Rascheln von Papier, und als ich wieder ins Zimmer kam, sah ich, dass sie einige der Zeitungen
     wieder auf den Tisch geräumt hatte.
    »Willst du noch etwas trinken?«
    Sie hatte die Tüte auf dem Schoß, die braune Papiertüte, in der die gelben Socken lagen. Sie hatte das Geld aus ihrer Tasche
     geholt und die Verkäuferin angeschaut, als könnte die verstehen, was das für meine Mutter bedeutete. Und etwas schien die
     Verkäuferin auch zu spüren, denn sie wurde weicher, so merkwürdig das klingt.
    »Noch einen Milchkaffee, in der Chocolaterie?«, fragte meine Mutter, als wir wieder auf der Straße waren.
    »Und ein paar Pralinen.«
    Ihr Blick war voll milder Enttäuschung. Sie konnte die Schokolade nicht mehr essen, sagte dieser Blick, und auch den Kuchen
     nicht, den es in der Chocolaterie gab. Es brannte zu sehr, die Säure der Johannisbeeren, die gehackten Nüsse mit ihren scharfen
     Kanten und selbst die sanfte Sahnecreme. Sie liebte es, zu kochen, zu essen, über das Essen zu reden. Als all das wegfiel,
     blieb ihr nur Schweigen. Die Chemotherapie hatte besonders im Mund gewütet. Ich habe ihr das eine Weile nicht geglaubt, habe
     es nicht wirklich begriffen. »Jetzt iss doch«, sagte ich, wie zu einem Kind.
    Vielleicht wollte ich, dass sie trotzig ist, weil ich dann wütend auf sie sein konnte. Auf den Krebs kann man ja nicht wütend
     sein.
    Ich kippte den Rollstuhl an der Tür etwas an, und wie jedes Mal, wenn ich das tat, fühlte ich mich erwachsen und fürsorglich
     und gut, der ganze Ernst der Situation lag in diesem Kippen, das ein paar Monate später das Kippen des Kinderwagens war, den
     Fuß an dieHinterräder gestemmt, ein kurzer Druck auf den Griff, eine Autorität, die ich bis dahin nicht gekannt hatte. Meine Mutter
     akzeptierte das nicht nur, ich glaube, sie genoss es.
    In der Chocolaterie war es wie immer recht voll. Ich schob meine Mutter in die Mitte des Raumes, stand schräg neben ihr und
     konnte sehen, dass ihre Augen den Raum durchsuchten. Wie sehr sie es mochte, jetzt hier zu sein, so nah am Ende, das in diesem
     Augenblick weit weg schien, an diesem Tag, der heiter war, als sei er nie geschehen.
    »Hallo, lange nicht hier gewesen«, rief eine Frau hinter der Bar, sie hatte braune Haare und eine große Tätowierung am linken
     Arm, eine der selbstbewussten Frauen, die meiner Mutter gefielen, Frauen, die es schaffen, das Leben, ihre Träume, was auch
     immer.
    »Hallo«, sagte meine Mutter, was kaum zu hören war neben der krachenden Kaffeemaschine. Sie holte etwas Atem. »Das ist mein
     Sohn. Und das sind die Socken, die wir für meine Enkelin gekauft haben.« Sie hielt die Tüte hoch.
    »Herzlichen Glückwunsch«, sagte die Frau, mehr zu meiner Mutter als zu mir. »Was wollen Sie trinken, einen Milchkaffee?«
    »Mit sehr wenig Kaffee und sehr viel Milch, bitte.«
    Wir stellten uns in die Ecke. Ich schob den Rollstuhl so, dass meine Mutter alles sehen konnte. Es war ja das letzte Mal,
     das wussten wir noch nicht und wussten es vielleicht doch. Es war das letzte Mal, wie so vieles indiesen Wochen und Monaten und in den Jahren zuvor, das letzte Mal Zypern, das letzte Mal Zürich, das letzte Mal Oper, das
     letzte Mal Champagner.
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