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Runen

Runen

Titel: Runen
Autoren: Elias Snæland Jònsson
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zahlreichen Eisentore des Friedhofs, trat ein und schloss es hinter sich. Es kreischte in den Angeln.
    Das nächste Tor würde Valgrind sein, das Tor zur nordisch-heidnischen Anderwelt.
    Der feine Kies knirschte unter den robusten Stiefeln bei jedem seiner Schritte den Friedhofsweg entlang. Zu beiden Seiten waren alte Grabsteine und verwitterte Holzkreuze ordentlich über den Köpfen derjenigen aufgereiht, die Krankheiten oder dem Alter anheimgefallen waren; Gräber von Dahingesiechten, für die Óðinn in seiner Heerschar der Auserwählten keine Verwendung hatte.
    Höskuldur blieb vor einem blumengeschmückten Grab deutscher Soldaten stehen, an dem drei Kreuze aus isländischem Basalt die meisten anderen Grabsteine oder Denkmäler des Friedhofs überragten. Er hatte die drei Steinkreuze noch nie als christliche Symbole angesehen. Ganz im Gegenteil waren diese grauen Steinriesen in seinen Augen immer Symbole für Þórs Hammer gewesen, des grimmigen Gottes, der seinen Feinden Angst und Schrecken mit seinen Donnerschlägen einjagte, bevor er sie mit Feuer und Schwefel vernichtete. Entsetzen. Auflösung. Tod. Die heilige Dreiheit des großen Kriegsherren.
     
    HIER RUHEN 17 DEUTSCHE SOLDATEN
    DES KRIEGES 1939–1945
     
    |11| Höskuldur vergewisserte sich, dass er allein am deutschen Soldatengrab stand. Er zog den Wintermantel aus, breitete ihn über die Blumen und den beschrifteten Basaltblock in der Mitte des Grabes vor der höchsten Steinsäule, legte die Aktenmappe rechts auf den Mantel, zog die Uniformmütze aus der Tasche und setzte sie sich auf den Kopf.
    Eine Weile stand er bewegungslos vor den drei Gedenksteinen, blickte mit durchgestrecktem Rücken in den Himmel, streckte dann den rechten Arm vor und hob ihn zum Gruß dessen, der am selben Tag wie er Geburtstag hatte: »Heil Hitler!«
    Höskuldur kletterte auf den Basaltblock und rutschte mühsam auf den Knien vorwärts, bis er mit dem Rücken dicht an den größten Stein gelehnt sitzen konnte. Er atmete kurz und stoßweise wegen der Anstrengung, die sein Körper nur mehr widerwillig verkraftete. Aber es machte nichts, wenn das Fleisch jetzt schwach war: Der Wille war noch stark wie Stahl.
    Er zog die offene Aktentasche zu sich heran, griff nach einem silbergrauen Flachmann, schloss die Augen und atmete den Duft des Cognacs ein.
    Der letzte Duft seines irdischen Daseins.
    Höskuldur nahm einen ausgiebigen Schluck, steckte den Flachmann wieder in die Aktentasche zurück, zog eine abgegriffene Luger P08 aus dem schwarzen Halfter, schloss die Tasche, presste den Lauf gegen den Adamsapfel und drückte ab, ohne zu zögern.
    Der Knall zerriss den Abendfrieden des Friedhofes, wurde weit hinaus auf die stille Bucht Fossvogur getragen. Aber er schreckte nur ein paar Stare auf, die sich in einem Baum niedergelassen hatten.
    |12| 2
    Samstag, 21. April
    Lange nach Mitternacht legte sich Melkorka Steingrímsdóttir neben ihren schlafenden Ehemann ins Bett, ohne die geringste Ahnung von dem schrecklichen Ereignis zu haben, das ihr so harmonisches Leben in den nächsten Tagen und Wochen von Grund auf umstürzen sollte.
    Die letzten beiden Stunden hatte sie mit dem Laptop auf den Knien in dem grünen Sessel im Wohnzimmer verbracht und ein Interview überarbeitet, das ein Journalist der Zeitschrift
Neues Leben
vor einigen Tagen mit ihr geführt hatte.
    »Erzähl unseren Lesern, wie es ist, eine der verhältnismäßig wenigen Frauen in Island zu sein, die all das erreicht haben, was der Gesellschaft des einundzwanzigsten Jahrhunderts am erstrebenswertesten erscheint: Prominenz, Karriere und ein glückliches Familienleben mit einem der beliebtesten Sportidole unseres Landes«, schmeichelte der Journalist. »Es gibt viele Frauen mit einem gewissen Bekanntheitsgrad. Einige sind durch ihre Karriere in künstlerischen oder sonstigen Berufen berühmt geworden. Andere finden ihr Glück im Schoß der Familie. Aber nur den wenigsten gelingt es, diese drei Dinge so spielerisch zu verbinden wie dir. Welches Geheimnis steckt dahinter?«
    »Das Einzige, was man dazu braucht, ist ein entschlossener Wille!«
    |13| Melkorka ließ ihre etwas schroff hingeworfene Antwort im Raum stehen, obwohl es eigentlich nur die halbe Wahrheit war.
    »Das Leben ist wie dieser Marathonlauf«, hatte ihr Vater Steingrímur Höskuldsson gesagt, als Melkorka im Sommer 1992 als Elfjährige eine Fernsehübertragung von den Olympischen Spielen in Barcelona sah. »Wenn du im Leben ganz nach oben kommen willst, musst
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