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Runen

Runen

Titel: Runen
Autoren: Elias Snæland Jònsson
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Untersuchung des Falles keine Rolle mehr. In dem Brief an dich bestätigt er ja den Suizid, und nach den isländischen Gesetzen ist es keine Straftat, sich das Leben zu nehmen.«
    Guðjón schnaubte unwillig. Was erlaubte sich diese freche Person wieder einmal, ihrem Vorgesetzten auf diese Art das Heft aus der Hand zu nehmen?
    »Das ist doch alles kompletter Unsinn«, ereiferte sich Melkorka.
    »Ich kann sehr gut nachvollziehen, wie unvorbereitet dich dieser schreckliche Vorfall trifft.«
    »Es ist völlig absurd, das Ganze.«
    »Natürlich hast du mein vollstes Mitgefühl.«
    »Willst du am Ende behaupten, mein Opa warein Nazi?«
    |21| »Nein, nein. Ich suche nur nach Erklärungen für die ungewöhnlichen Umstände, auf die wir heute früh gestoßen sind«, erklärte der Hauptkommissar und steckte Höskuldur Steingrímssons Schreiben wieder in den Umschlag zurück.
    Er gab seiner Kollegin ein Zeichen, ihm voraus zur Wohnungstür zu gehen.
    »Den Abschiedsbrief muss ich leider noch eine Weile behalten, da er ein Beweisstück ist«, fügte er hinzu. »Auf Wiedersehen.«
    In den nächsten Minuten fiel es Melkorka schwer, logisch klar zu denken. Sie versuchte Kári zu erreichen. Aber es meldete sich nur die Mailbox seines Handys.
    »Bitte ruf mich sofort zurück!«, bat sie, legte auf und begann, nach einer Antwort auf die Frage zu suchen, die sie am schmerzlichsten bedrängte: Warum hatte Höskuldur ihr am gestrigen Abend nicht die Wahrheit über seine Krankheit gesagt?
    Zwar hatte sie es durchaus eilig gehabt, ins Funkhaus zu kommen. Dennoch wäre genügend Zeit gewesen, ihr anzuvertrauen, dass er nicht mehr leben wollte. Natürlich hätte sie sich im Funkhaus abgemeldet und ihn von diesem grauenhaften Schritt abzubringen versucht.
    Am allerwenigsten verstand sie jedoch, weswegen er sich ausgerechnet in so einer lächerlichen Verkleidung hatte erschießen müssen.
    Melkorka hatte nie auch nur die geringste Andeutung gehört, dass ihr Opa früher ein Nationalsozialist gewesen sein könnte. Ihre Mutter und ihr Stiefvater hatten so etwas nie erwähnt. Er selbst hatte mit ihr immer über alles andere als seine Jugendjahre oder über Politik gesprochen, |22| obwohl er ihr durchaus seine Anerkennung für ihre steile Karriere in der Jugendsektion der Unabhängigkeitspartei vermittelt hatte, bevor sie als Nachrichtenjournalistin zum Fernsehen gekommen war.
    Wie hatte Opa ihr das antun können?
    |23| 4
    Die wildesten Gerüchte über den Selbstmord verbreiteten sich wie ein Lauffeuer in den isländischen Medien. In den Fluren des Rundfunkhauses wurde über die Verbindungen zwischen dem Verstorbenen und Melkorka getuschelt, ohne dass jemand so viel Mut aufgebracht hätte, mit ihr selbst über die Gerüchte zu sprechen. Gegen Mittag rief sie der Leiter der Nachrichtenredaktion zu sich und fragte ohne Umschweife: »Dein Großvater ist gestorben?«
    »Ja. Woher weißt du das?«
    »Das pfeifen die Spatzen von allen Dächern. Willst du dir nicht ein paar Tage freinehmen?«
    »Brauche ich nicht, mir geht’s gut.«
    »Aber es muss für dich doch ein großer Verlust sein.«
    Melkorka nickte.
    »Nimm dir einfach eine Auszeit!«
    »Nicht nötig«, wiederholte sie.
    »Etwas anderes kommt aber nicht in Frage.« Die Miene ihres Vorgesetzten gab deutlich zu verstehen, dass seine Entscheidung keinen Widerspruch mehr duldete.
    Also räumte Melkorka ihren Schreibtisch auf, verließ hocherhobenen Hauptes das Rundfunkhaus und setzte sich ans Steuer ihres Range Rover Sport. Noch auf dem Parkplatz prüfte sie ihr Handy. Kári hatte noch immer nicht reagiert.
    |24| In sportlicher Fahrweise fädelte sie sich durch den Verkehr auf der Schnellstraße Miklabraut zur Ártúnsbrekka im Osten Reykjavíks. Auf dem Heimweg zu ihrem schicken Haus im Nobelviertel Grafarholt gingen ihr Erinnerungen an angenehme Besuche bei ihrem Opa durch den Kopf. Als ihr Vater noch lebte, hatten sie sich jedes Jahr im August zu dritt auf dem großen Volksfest im Tal Herjólfsdalur auf Heimaey amüsiert. Anschließend hatten sie immer noch etwa eine Woche bei Höskuldur auf der Insel verbracht. Während ihrer Studienzeit hatte sie dann zwei Sommer lang im Büro einer Reederei auf Heimaey gearbeitet, an der Höskuldur beteiligt war. Oft waren sie auch zusammen auf See gewesen. Höskuldur war mit ihr in seinem Boot um die Westmännerinseln getuckert und hatte ihr das Bootfahren beigebracht, das Tauchen mit Froschmannausrüstung, das Klettern in den steil abfallenden Inselfelsen
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