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Runen

Runen

Titel: Runen
Autoren: Elias Snæland Jònsson
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und wie man die Papageientaucher hoch oben in den Felswänden mit dem Vogelkescher erwischte.
    Sie hatte immer geglaubt, ihren Großvater gut zu kennen. Der Mann, an den sie sich erinnerte, konnte kein widerlicher Nazi sein. Das war absolut ausgeschlossen.
    Eigentlich wusste sie recht wenig über die deutsche SS, außer dass sich unter ihnen die Massenmörder befunden hatten, die für die schlimmsten Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs verantwortlich waren.
    Als sie mit dem Jeep in die Einfahrt vor ihrem neuen Einfamilienhaus einbog, drängte sich der letzte Satz im Brief ihres Großvaters in ihre Gedanken:
     
    Ich lege das Geheimnis meines Lebens vertrauensvoll in Deine Hände.
     
    |25| Das unangenehm ziehende Gefühl im Bauch wurde plötzlich um einiges stärker. Sollte der Selbstmord vielleicht erst der Anfang von weiteren, bestürzenden Enthüllungen alter Familiengeheimnisse sein?
    |26| 5
    Dienstag, 24. April
    Melkorkas Alptraum nahm an jenem Morgen neue Gestalt an, als das Boulevardblatt DV auf der Titelseite in großer Aufmachung den Tod ihres Großvaters in die Welt posaunte. Zuoberst prangte in großen Lettern die Schlagzeile vom »Selbstmord eines isländischen SS-Mitglieds«. Darunter war die Bildmontage eines Mannes in schwarzer SS-Uni form mit dem hineinkopierten Gesicht von Höskuldur Steingrímsson zu sehen.
    »Dürfen die das?«, fragte Melkorka erbost und feuerte das Blatt auf den Küchentisch.
    Ihr Mann zog die DV zu sich, betrachtete die erste Seite und blätterte auf die nächste um, auf der ausführlicher über den Suizid berichtet wurde. Melkorka blickte ihm von einem Foto aus entgegen.
    Kári verfügte über die besondere Fähigkeit, sein Temperament zu zügeln, wenn ihn etwas ärgerte. Er verlor nie die Kontrolle über sich. Stattdessen schwoll ihm die Zornesader an, und er runzelte die Stirn.
    »Unglaublich geschmacklos«, befand er düster.
    Melkorka befiel ein Schwindel, als sie ihr Bild und ein weiteres von ihrem Großvater erblickte, beide in ein riesiges Foto des deutschen Soldatengrabs auf dem Friedhof von Fossvogur montiert. Die Buchstaben unter den Bildern flimmerten vor ihren Augen:
     
    |27| Der ehemalige Lehrer Höskuldur Steingrímsson aus Heimaey und Großvater des Fernsehstars Melkorka Steingrímsdóttir trug eine Uniform der berüchtigten deutschen SS-Verbände und brachte sich mit einem Kopfschuss am Grab von Hitlers Soldaten in Fossvogur um.
     
    »DV. Drecksblatt, verdammtes«, knurrte Kári.
    Den ganzen Vormittag hingen sie beide am Telefon, um abwechselnd mit ihren Verwandten, Freunden oder Kollegen zu reden oder Fragen von Journalisten zu beantworten. Obwohl sich viele ihrer Bekannten an diesem Morgen hinreißen ließen, die DV wüst zu beschimpfen, kamen sie nicht an der Tatsache vorbei, dass der Kern der Nachricht stimmte. Melkorka und Kári wurde auch klar, dass Höskuldurs Selbstmord nicht nur Verwunderung bei Freunden und Bekannten hervorrief, sondern auch Neugier erregte. Melkorka konnte das nicht nur nicht nachvollziehen, sie hatte noch viel weniger Lust, diese Neugier zu befriedigen.
    Sie spürte, wie Ohnmacht, Trauer und Zorn in ihr miteinander rangen. In ihrer verzweifelten Ratlosigkeit rief sie ihre Mutter Helga Arnórsdóttir an, die in ihrem Büro in der Stadtbücherei im nordisländischen Akureyri saß. Schweigend hörte Helga der aufgeregten Erzählung ihrer Tochter von dem Artikel zu, der ohne Vorwarnung das Leben der Familie auf den Kopf gestellt hatte.
    »Soll ich zu dir kommen?«, fragte sie dann.
    »Nein«, wehrte Melkorka ab. »Ich muss nur mal mit wem reden, um nicht vollends den Verstand zu verlieren.«
    »Ich könnte die Nachmittagsmaschine nehmen.«
    |28| »Hast du gewusst, dass Opa so eine Nazi-Uniform besaß?«
    Helga zögerte.
    »Wusstest du das?«, wiederholte Melkorka.
    »Ich hab sie nie an ihm gesehen«, gab Helga zur Antwort.
    »Aber?«
    »Ich erinnere mich, dass dein Vater mir irgendwann mal erzählt hat, dass Höskuldur eine deutsche Uniform besaß. Er hat sie angezogen, wenn er mit der Flasche allein war.«
    »Mein Gott!« Melkorka atmete einige Male tief ein, um ihre Nerven zu beruhigen.
    »War er denn ein Nazi?«
    »Ich wüsste nicht, dass irgendwer so etwas in meiner Anwesenheit behauptet hätte.«
    »Aber was bedeutet das dann?«, rief Melkorka. »Warum tut er uns das an?«
    »Ich nehme jetzt doch die nächste Maschine nach Reykjavík«, verkündete Helga entschlossen.
    |29| 6
    Aðalsteinn Indriðason, seit vielen Jahren Höskuldur
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