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Runen

Runen

Titel: Runen
Autoren: Elias Snæland Jònsson
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|7| ERSTER TEIL
DAS SCHWARZE ERBE
    Die Runen waren heilig,
    ihnen wohnte eine Macht inne, die das Verständnis überstieg,
    und sie waren nur einigen wenigen Auserwählten anvertraut.
    Sie waren die Kraft zum Guten und Üblen,
    und nur wenige wussten mit ihnen umzugehen.
    – Prof. Magnús Olsen
    1
    Freitag, 20. April 2007
    Höskuldur Steingrímsson hob langsam das bauchige Glas an die Lippen und atmete dreimal tief das Bouquet des alten französischen Cognacs ein. Dabei ließ er seinen Blick aus dem Fenster des Speisesaals im Hótel Borg schweifen, schaute über die Pósthússtræti zum Austurvöllur-Platz, wo er seinerzeit die Gelegenheit gehabt hatte, gegen die isländischen Stalinisten zu kämpfen. Am 30. März 1949 waren er und seine Kameraden mit Holzprügeln aus dem Parlamentsgebäude gestürmt. Er hatte jedem Bolschewiken, den er zwischen den grauen Tränengasschwaden ausmachen konnte, eins über den Schädel gezogen. Der säuerlich-süßliche |8| Geruch des Gases, der fast sechs Jahrzehnte lang in seiner Erinnerung geschlummert hatte, vermengte sich in seinen Gedanken mit dem Geruch des Baron de Sigognac, der etwa zehn Jahre jünger war. Wieder schloss er die Augen und spürte, dass der gegenwärtige Augenblick vollkommen war.
    Aber was der Geist auch immer wahrnimmt, es ist nichts als ein flüchtiger Moment in der Ewigkeit; ein bunter Schmetterling, der sich für einen winzigen Augenblick niederlässt, bevor die Erinnerung davonflattert.
    Höskuldur seufzte wehmütig, öffnete die Augen wieder, leerte das Glas, stand bedächtig auf und ging langsam zur Tür und zum Aufzug in der Empfangshalle. Das Zimmer, das er am Vortag für zwei Nächte gemietet hatte, lag im zweiten Stock des Hotels.
    Er zog die Schuhe aus, legte den dunklen Anzug, das weiße Hemd und die schwarze Fliege auf das gemachte Bett, öffnete eine kleine Reisetasche, zog seine alte Uniform und die schwarzen Stiefel ein letztes Mal an. Eine ganze Weile betrachtete er sich in dem großen Badspiegel. Sie saß noch immer ausgezeichnet. Sein Körper war durch das Alter unvermeidlicherweise ausgemergelt. Er hatte keinen Apfel ewiger Jugend von der nordischen Göttin Iðunn bekommen, der die Gebrechlichkeit in Schach hätte halten können, wie die ihm so vertrauten altnordischen Mythen erzählten. Trotzdem hatte er schon viele überrascht, wenn sie sein wahres Alter erfuhren; trotz seines von tiefen Falten zerfurchten Gesichts und des hellgrauen, kurzgeschnittenen Haars wirkte er noch unglaublich jung.
    Er war mit dem Flugzeug von den Westmännerinseln, dem kleinen Archipel vor der Südwestküste Islands, in die |9| Hauptstadt Reykjavík gekommen. Er wohnte seit langem auf Heimaey, der einzigen dauerhaft bewohnten Insel. Höskuldur hatte seine Enkelin zum Abendessen ins Hótel Borg eingeladen, um die Tatsache zu feiern, dass er am heutigen 20. April das neunzigste Lebensjahr vollendet hatte. Dieses letzte gemeinsame Abendessen war allerdings recht kurz ausgefallen, da Melkorka Steingrímsdóttir spät ankam und schon früh wieder verschwand. Sie hatte etwas in der Nachrichtenredaktion des isländischen Fernsehens zu erledigen. Aber es war ihm eigentlich auch egal. Immerhin hatte er die Möglichkeit gehabt, sie in seine Arme zu nehmen und sich von ihr zu verabschieden.
    Höskuldur zog einen dicken, langen Wintermantel an und knöpfte ihn bis zum Hals zu. Dann holte er eine schwarze Aktenmappe aus einem Schrank, öffnete sie, überprüfte ihren Inhalt ein letztes Mal und schloss sie wieder. Einen Moment lang stand er ruhig mitten im Zimmer, blickte sich um, um sicherzugehen, dass alles seine Ordnung hatte, bevor er es für immer verließ.
    Dieser Aprilabend in Reykjavík war mild und trocken. Hinter dem Gletscher Snæfellsjökull ging gerade die Frühlingssonne unter. Sonnenstrahlen brachen sich auf der Glaskuppel über der Aussichtsplattform von Perlan, einem der Wahrzeichen der Stadt: Auf dem Öskjuhlíð standen vier massige Heißwassertanks, die Ende der Achtziger zum Aussichtspunkt umfunktioniert worden waren. Diesen Hügel fuhr er im Taxi hinauf und auf der stadtabgewandten Seite wieder hinunter – nach Osten. Dort lag der Friedhof von Fossvogur. Höskuldur fand es passend, den Sonnenuntergang im Rücken zu haben, so wie in alten Zeiten auf dem finnischen Eis. Oder später, als er sich abends |10| vor den bolschewistischen Partisanen in den Ruinen einer uralten gotischen Höhlenstadt am Schwarzen Meer versteckt hatte.
    Er öffnete eines der
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