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Runen

Runen

Titel: Runen
Autoren: Elias Snæland Jònsson
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Steingrímssons Rechtsanwalt, war einer von denen, die kurz vor Mittag bei Melkorka anriefen. Der Anlass war jedoch ein ganz anderer. Er behauptete, auf Veranlassung des Verstorbenen eine dringende Angelegenheit mit ihr besprechen zu müssen.
    Melkorka hatte den Rechtsanwalt während ihrer politischen Tätigkeit für die Unabhängigkeitspartei flüchtig kennengelernt, für die er als einflussreicher Geldbeschaffer gearbeitet hatte. Sie verabredeten ein Treffen in Aðalsteinns Büro für den Nachmittag. Die Kanzlei befand sich im dritten Stock eines neu errichteten Glasturmes an der Borgartún, der isländischen Miniausgabe der Wall Street, an der während des größenwahnsinnigen Aktienbooms einige der bedeutendsten isländischen Finanzunternehmen ihre Niederlassung unterhalten hatten.
    Aðalsteinn warvon kleiner Statur, aber dafür um so mehr in die Breite gewachsen. Er begrüßte Melkorka, indem er ihre beiden Hände in seine nahm und ihr sein tiefempfundenes Beileid aussprach. Dann bot er ihr einen Platz auf dem dunkelbraunen Ledersofa an. Das geräumige Büro war mit einem großen Gemälde des isländischen Malers Jóhannes S. Kjarval geschmückt. Es zeigte die Ebene Þingvellir, diesen für die isländische Geschichte so bedeutsamen |30| Ort. Daneben gab es die gebundenen Ausgaben von Urteilen des höchsten isländischen Gerichts sowie des Staatsanzeigers, die die Wand hinter einem umfänglichen Eichenschreibtisch bedeckten. Der Schreibtisch selbst war nahezu leer.
    »Vor mir war mein Vater der Anwalt deines Großvaters«, begann er, als sie sich auf dem Sofa niedergelassen hatten. »Soweit ich weiß, lernten sie sich gegen Ende des Zweiten Weltkriegs kennen und waren eng befreundet. Kurz vor dem Tod meines Vaters übernahm ich die Kanzlei und dabei unter anderem die juristische Vertretung Höskuldurs, und auch wir waren eng befreundet. Zu hören, wie sich sein Tod ereignet hat, überrascht mich nun sehr.«
    »Ich bin auch völlig schockiert«, sagte Melkorka.
    »Das kann ich gut nachvollziehen. Er hat dir, ebenso wie mir, keine Andeutung gemacht, was er vorhatte, oder?«
    »Nein, das brach wie ein Blitz aus heiterem Himmel über uns herein.«
    Aðalsteinn nickte nachdenklich. »Die Sache ist die, dass Höskuldur am Tag vor seinem Tod zu mir kam, um mir seine Verfügungen für die Abwicklung der letzten Dinge nach seinem Ableben zu übergeben.«
    »Heißt das, er hat ein Testament gemacht?«
    »Nein, das nicht. Er sagte, du und dein Sohn seien seine einzigen lebenden Nachkommen und deshalb sei das nicht notwendig.«
    »Was dann?«
    »Voreinigen Jahrzehnten hatte Höskuldur meinem Vater eine Aktentasche zur Aufbewahrung anvertraut. Es muss um 1950 gewesen sein«, berichtete der Rechtsanwalt. »Bei |31| unserer letzten Begegnung bat er mich, dir diese Tasche nach seinem Tod zu übergeben.«
    »Was ist in der Tasche?«
    »Das weiß ich nicht«, antwortete Aðalsteinn. »Die Aktentasche ist fest verschlossen, wie all die Jahre zuvor auch. Es gibt aber in einem versiegelten Umschlag einen Schlüssel dazu.«
    »Wenn ich sie aber nicht haben will?«
    »Dann bin ich verpflichtet, sie zu verbrennen, und zwar mitsamt ihrem Inhalt.«
    Melkorka konnte eine gewisse Scheu vor dem Geheimnis, das ihr Großvater jahrzehntelang vor der Familie versteckt hatte, nicht leugnen. Schließlich gewann aber doch die Hoffnung auf Antworten die Oberhand über ihr Widerstreben. Sein schrecklicher Tod hatte zu viele Fragen aufgeworfen.
    »Also gut«, beschloss sie. »Ich muss die Tasche annehmen, wenn Großvater es so wollte.«
    »Gut.«
    Aðalsteinn stand auf und gab einige telefonische Anweisungen. Kurz darauf erschien eine Frau mittleren Alters, brachte eine schwarze Aktentasche und legte sie auf den Schreibtisch. An der Tasche war ein kleiner, aber dicker Umschlag befestigt.
    »Bitte sehr«, sagte Aðalsteinn.
    Melkorka beeilte sich, in ihren Sportjeep zu kommen. Sie schloss die Tür, legte die schwarze Tasche auf den Beifahrersitz, nahm hastig den Umschlag an sich, brach das rote Siegel, fand den Schlüssel und steckte ihn ins Schloss.
    |32| 7
    Helga Arnórsdóttir hatte vorgehabt, einen kurzen Abstecher ins Reykjavíker Einkaufszentrum Kringlan zu machen, solange ihre Tochter bei Höskuldur Steingrímssons Anwalt war. Nicht, weil sie irgendetwas gebraucht hätte, was sie zu Hause nicht auch bekommen hätte. Es schien ihr schlichtweg eine angenehme Abwechslung, in aller Ruhe in einem der Cafés des überdachten Zentrums zu sitzen, eine
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