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Schlamm, Schweiß und Tränen

Schlamm, Schweiß und Tränen

Titel: Schlamm, Schweiß und Tränen
Autoren: Bear Grylls
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Die Lufttemperatur beträgt minus 20 Grad Celsius. Ich reibe meine eiskalten Finger kräftig aneinander, aber sie werden
einfach nicht richtig warm. Sie machen einem eben ständig zu schaffen, diese alten Verletzungen, die man sich infolge von Erfrierungen
eingehandelt hat. Die gehen auf das Konto des Mount Everest.
    „Bist Du startklar, Kumpel?", fragt Kameramann Simon mit einem Lächeln. Seine Kameraausrüstung ist montiert und einsatzbereit.
    Ich lächle zurück. Ich bin ungewöhnlich nervös.
    Irgendetwas stimmt nicht.
    Aber ich höre nicht auf meine innere Stimme.
    Die Arbeit ruft.

    Mein Kamerateam schwärmt mir vor, wie atemberaubend schön
die schneebedeckten Gipfel der kanadischen Rocky Mountains heute
Morgen aussehen. Aber ich nehme das nicht wirklich wahr.
    Denn es ist jetzt Zeit, dass ich mich gedanklich an meinen geheimen Ort zurückziehe. In jenen verborgenen Winkel tief in meinem
Innersten, der sich durch absolute Konzentration, Unerschrockenheit, Klarheit und Präzision auszeichnet. Auch wenn ich mit diesem Teil
meines Innersten am besten vertraut bin, ziehe ich mich nur äußerst
selten an diesen Ort zurück.

    Das mache ich ausschließlich in besonderen Situationen. So wie
jetzt.
    Unter mir befindet sich eine etwa 90 Meter lange, steil abfallende
Felswand, die mit einer dicken Schnee- und Eisschicht bedeckt ist.
Steil, aber durchaus machbar.
    Eine derart rasante Schussfahrt wie diese habe ich schon oft, sehr
oft gemacht. Meine innere Stimme ermahnt mich: Sei bloc niemals zu
selbstsicher. Diese Stimme hat immer recht.
    Ein letzter tiefer Atemzug. Ein Blick hinüber zu Simon. Dieser erwidert meinen Blick stillschweigend.
    Doch wir haben eine entscheidende Kurve nicht korrekt genommen. Ich weiß es. Aber ich reagiere nicht.
    Ich springe.
    Ich werde augenblicklich von der Geschwindigkeit überrascht.
Normalerweise mag ich das. Doch dieses Mal bin ich beunruhigt.
    Ich spüre, dass irgendetwas nicht stimmt.
    Im Nu rase ich mit über 65 Stundenkilometern talwärts. Füße voran den Berghang hinunter. Mit meinem Kopf sause ich nur wenige
Zentimeter am Eis vorbei. Das ist meine Welt.
    Ich werde immer schneller. Der Rand des Berghangs kommt immer näher. Höchste Zeit, die Schussfahrt abzubremsen.
    Schnell drehe ich mich auf den Bauch und schlage meinen Eispickel
tief in den Schnee.
    Eine weiße Wolke aus feinem Schneestaub und Eis wirbelt durch
die Luft. Nachdem ich den Eispickel mit meiner ganzen Kraft tief in
das Schneefeld gerammt habe, merke ich sofort, dass ich extrem an
Geschwindigkeit verliere.
    Es läuft alles ganz genauso wie immer. Wie am Schnürchen. Grenzenloses Selbstvertrauen. Es ist einer jener seltenen Augenblicke, die
von absolut klaren Gedanken geprägt sind.
    Ein flüchtiger Augenblick. Dann ist er vorbei.
    Ich bin jetzt zum Stillstand gekommen.

    Die Welt um mich herum steht still. Dann - rums.
    Simon und sein schwerer Holzschlitten samt dem robusten Kameragehäuse aus Metall krachen direkt in meinen linken Oberschenkel.
Und das mit gut und gerne über 70 Stundenkilometern. Der laute
Aufprall entlädt sich augenblicklich in einer unglaublichen Explosion
aus Schnee und Schmerz.
    Es ist, als hätte mich ein Güterzug erfasst. Ich werde den Berg hinuntergeschleudert wie eine Stoffpuppe.
    Das Leben steht still. Ich fühle und sehe alles wie in Zeitlupe.
    Im Bruchteil einer Sekunde wird mir jedoch eines klar: Wäre der
Schlitten nur um ein Grad von seiner Bahn abgewichen, hätte er mich
am Kopf erwischt. Zweifellos wäre dies dann wohl der letzte Gedanke
in meinem Leben gewesen.
    Stattdessen krümme ich mich vor Schmerzen.
    Ich weine. Es sind Tränen der Erleichterung.
    Ich bin zwar verletzt, aber am Leben.
    Ich sehe einen Hubschrauber, kann ihn aber nicht hören. Dann
bin ich im Krankenhaus. Ich war schon in einigen Krankenhäusern,
seit wir die Reihe Abenteuer Survival -Ausgesetzt in der Wildnis: Bear
Grylls drehen. Ich hasse Krankenhäuser.
    Ich kann sie allesamt mit verbundenen Augen erkennen:
    Die dreckige und blutverschmierte Notaufnahme in Vietnam, in
die ich gebracht wurde, nachdem ich mir im Dschungel meinen Finger zur Hälfte abgesäbelt hatte. Nachttische gab es dort nicht.
    Dann der Steinschlag im Yukon. Ganz zu schweigen von dem
weitaus schlimmeren Felssturz in Costa Rica. Der Einsturz des Grubenschachts in Montana oder das Salzwasser-Krokodil in Australien.
Oder der fast fünf Meter lange Tigerhai, mit dem ich im Pazifik Bekanntschaft gemacht habe,
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